Annäherung an einen wirkmächtigen Philologen und Philosophen
Ich neige zu Minderheiten. Beispielsweise bei der Wahl des gemeinsamen Ehenamens: Ich habe bei meiner Heirat den Namen meiner Frau angenommen. Das war 1993 bei nicht mal 3 Prozent der Eheschließungen der Fall; → mittlerweile sind es 6 Prozent. Mit Büchern ist es ähnlich. Wir gehören zu den → 6 Prozent der Haushalte, die mit mehr als 250 Büchern leben. Ein Leben ohne Bücher ist etwa so sinnvoll wie ein Leben ohne Musik – womit wir schon bei Nietzsche sind, der wusste:
Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.
Ein paar hundert Bücher sind aber nicht viel, sondern nur die berühmte Spitze des Eisbergs, denn im Jahr 2010 gab es laut Google → etwa 130 Millionen Bücher weltweit, und seit der Berechnung durch Google ist die Zahl nicht kleiner geworden. Dieser gigantische Bücherberg lässt sich in einem Menschenleben selbst bei Überschreitung der durchschnittlichen Lebenserwartung nicht lesen. Das gilt selbst für einige der Bücher, die ich gewissermaßen in meinen Lebensleseplan, also meine bibliophile Löffelliste, aufgenommen habe. Und als ob es nicht genug Bücher gäbe, kommt es vor, dass ich manche Bücher mehr als ein Mal lese.
So zum Beispiel „Nietzsche, Biographie seines Denkens“ von Rüdiger Safranski, das ich in den Jahren nach dem Erscheinen der Erstausgabe von 2000 (Hanser Verlag, München, ISBN 3-446-19938-1) gelesen habe. Dieses Buch werde ich nun noch einmal lesen, weil mir Simone Stölzel und Thomas Stölzel mit vier kurzen Essays, die mühelos in einen (leiblichen) Zusammenhang zu bringen sind, den Mund wässrig gemacht haben.
— • —
Da sind zunächst zwei Textbeiträge der beiden Dres. Stölzel, die im → Leidfaden (Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer) zum Themenschwerpunkt Bindung (Entstehung, Bedeutung, Belastung) erschienen sind:
• Thomas Stölzel, Den Löffel abgeben. Anmerkungen zu einer intergenerationellen Metapher, Leidfaden 2019 Heft 4, S. 36
• Simone Stölzel, Bindung an die Toten. Wie alte, magische Vorstellungen noch heute fortwirken, Leidfaden 2019 Heft 4, S. 84
Thomas Stölzel beschreibt, wie der Löffel zum sprichwörtlichen Bindeglied zwischen den Generationen wurde. In alten Zeiten wurden die persönlichen und unpfändbaren Löffel Verstorbener an ihre Nachkommen weitergegeben.
Imprägniert vom Speichel der Vorfahren bedeutete dies eine besondere Form der sekretorischen Mitgift, die eine starke (Ver-)Bindung erzeugte, eine intensive, leibliche wie symbolische Nähe über den Tod hinaus.
Die symbolische Bedeutung des Löffels besteht noch heute, etwa in der Metapher der Löffelliste, deren Bekanntheit erläutert wird. Das sich Metaphern auch für die Beratungspraxis nutzen lassen, verdeutlicht der Autor mit seinem Verweis auf das Kapitel Anschauliche Worte in seinem Buch → Die Welt erkunden. Sprache und Wahrnehmung in Therapie, Beratung und Coaching, Göttingen 2015.
Im selben Heft des Leidfadens berichtet Simone Stölzel von alten, magischen Vorstellungen von Gespenstern, nämlich wiederkehrenden Toten, als einen Ausdruck von Trennungsschmerz und Todesangst, die noch heute nachwirkenden. Die Furcht vor Gespenstern und Vampiren hat die Autorin bereits in ihrem literarisch-kulturwissenschaftlichen Buch → Nachtmehrfahrten. Die dunkle Seite der Romantik, Berlin 2013, behandelt – ein Werk der Stölzels, dass in meiner Sammlung noch fehlt.
Die Autorin benennt auch einen bemerkenswerten → Trend zur Pathologisierung von Tod und Trauer und kommentiert zutreffend:
Als sei das Leben auf einer emotionalen Nulllinie ein unbedingt anzustrebender Grundzustand und jede Abweichung davon gefährlich, wenn nicht schon krankhaft.
Die Todesfurcht wird übrigens von der Autorin als menschlich, allzumenschlich bezeichnet, womit die Brücke zu den anderen beiden Essays der Dres. Stölzel geschlagen ist, denn hier wird nicht weniger als die → 1878 erschienene philosophische Schrift gleichen Titels von Friedrich Nietzsche in Bezug genommen.
— • —
Je einen Brief haben Simone und Thomas Stölzel beigetragen zu dem Sammelband → 101 Briefe an Friedrich Nietzsche zu seinem 175. Geburtstag, herausgegeben von Elmar Schenkel und Fayçal Hamouda und erschienen im Oktober 2019 in Leipzig:
• Simone Stölzel, Brief an F. Nietzsche, in: Elmar Schenkel & Fayçal Hamouda (Hrsg.), 101 Briefe an Friedrich Nietzsche zu seinem 175. Geburtstag, Leipzig, Oktober 2019, S. 192
• Thomas Stölzel, Am Leitfaden des Leibes … in: Elmar Schenkel & Fayçal Hamouda (Hrsg.), 101 Briefe an Friedrich Nietzsche zu seinem 175. Geburtstag, Leipzig, Oktober 2019, S. 293
Am 15. Oktober 2019 wäre Nietzsche 175 Jahre alt geworden. Warum es 101 Briefe geworden sind, lassen uns die Herausgeber nicht wissen, aber Thomas Stölzel stellt in seinem Brief einen Bezug zu dieser Zahl her. Dazu sogleich.
Zunächst erzählt Simone Stölzel in ihrem Brief an Nietzsche, den sie aus Sils-Maria (Schweiz) schreibt, von ihren Erlebnissen als Kustodin im dortigen nach Nietzsche benannten Museum. Die Briefschreiberin duzt ihren Friedrich Nietzsche, weil sie sich ihm näher und verbundener fühlt als einem damaligen Freund, der ihr schon lange kein Freund mehr ist. Ihr sind seitens der Besucher komische Irrtümer und Dummheiten, aber auch ausgesuchte Höflichkeiten und Nachdenkliches begegnet. Ein leiblicher Bezug kommt auch zur Sprache:
‚Gib das schöne Händchen!‘ hieß es offenbar wiederholt, als man Dich in Deiner geistigen Umnachtung mit gewaltigem Schnurrbart wie eine kuriose Mischung aus wildem Tier und genialem Kleinkind den Besuchern vorführte.
Die Autorin schließt daraus, dass Nietzsche ebenso wie ihr die Linkshändigkeit ausgetrieben wurde.
Im Brief von Thomas Stölzel an Nietzsche steht das Leibliche ganz im Zentrum. Er eröffnet mit dem Hinweis, dass Nietzsche, den er siezt, 101 Jahre alt hätte werden müssen, um zu erleben, dass philosophischerseits etwas mit dem Leib angefangen wurde. Bis 1945 war es Nietzsche, der sich pionierhaft mit dem Leib und seinem Einfluss auf das Denken befasst hatte. Diesen Ausgangspunkt und das, was 1949 und danach kam, skizziert der Autor in seinem Brief. Am Ende des Briefes findet sich dann ein Post Scriptum, in dem Thomas Stölzel auf ein kurioses Detail, ein markantes Etwas an Nietzsches Körper und ikonisiertem Antlitz eingeht. Er präsentiert ein Gedicht über den nietzscheanischen Schnurrbart: Überwachsene Lippen.
— ♦ —
In der Tat begegnet uns Nietzsche, der auch als → der größte Psychologe unter den Philosophen bezeichnet wurde, bildlich zumeist mit einem monströsen Schnurrbart von solchem Ausmaß, dass man meinem könnte, sein Gesicht unterhalb der Nase verschwinde hinter einem Vorhang. Mich erinnert das an Büroarbeiter, die auf ihrem Schreibtisch einen Handapparat aus Nachschlagewerken und anderen mehr oder weniger nützlichen dickleibigen Büchern so arrangieren, dass ein etwaiger Besucher von einem wuchtigen Schutzwall förmlich auf Abstand gehalten wird. Bei Nietzsche handelt es sich wohl eher um die Kenntlichmachung eines Status der Verhinderung intimer Annäherung, worauf seine Vita hindeutet, als um ein Statement in Form eines antifeministischen Schutzwalls, denn letzteres würde ihm nicht gerecht, weil → er gegenüber Frauen nicht feindselig, sondern eher fair eingestellt war.
Das Cover der Erstausgabe 2000 von Safranskis Biographie über Nietzsches Denken, die ich nun nochmals lesen werde, zeigt das sattsam bekannte ikonisierte Bild von Nietzsche. Das Cover der Neuausgabe 2019 präsentiert demgegenüber drei Bildnisse von ihm in unterschiedlichem Alter und somit einen Wandel statt einer Ikone: Im ersten Bild ist Nietzsche ein junger Mann ohne Bart, im zweiten Bild trägt er bereits einen stattlichen, aber das Kinn noch freilassenden Schnurrbart und im dritten Bild schließlich einen Vorhang vor Ober- und Unterkiefer.
Safranski stellt seinem Buch über Nietzsches Denken übrigens ein Zitat von Nietzsche aus einem Brief vom 29. Juli 1888 voran:
Es ist durchaus nicht nöthig, nicht einmal erwünscht, Partei für mich zu nehmen: im Gegentheil, eine Dosis Neugierde, wie vor einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstande, schiene mir eine unvergleichlich intelligentere Stellung zu mir.
In diesem Zitat werden drei philosophische Kompentenzen angesprochen: Staunen, Humor und Skepsis. Die philosophischen Kompentenzen hat Thomas Stölzel vorgestellt in seinem Buch → Staunen, Humor, Mut und Skepsis. Philosophische Kompetenzen für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung, Göttingen 2012. Hiermit vertraut wird sich gewiss ein anderer Zugang zu Nietzsches Denken erschließen als bei der ersten Lektüre der genannten Biographie seines Denkens.
▮