Ein Plädoyer für den amerikanischen Traum
Eine Buchbetrachtung zu:
J. D. Vance, Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise
Ullstein, ISBN-13 9783548377636
Am Anfang steht ein Gewaltexzess: die legendäre → Hatfield-McCoy-Fehde, ein blutiger Konflikt zwischen zwei Großfamilien, der sich Ende des 19. Jahrhunderts in einem abgelegenen Tal der Appalachen ereignete und mehr als ein Dutzend Menschen das Leben kostete. Ein Cousin des Großvaters mütterlicherseits des Autors gehörte zum Clan der Hatfields. Die Hatfield-McCoy-Fehde steht heute in den USA sprichwörtlich für eine lang anhaltende Feindschaft. Damals wechselte das Image der Bewohner der Appalachen → vom Pionier zum gewalttätigen Hinterwäldler, dem Hillbilly, Redneck oder White Trash. Im Hintergrund stand eine wirtschaftliche Veränderung: die Entdeckung und Förderung von Steinkohle in den Appalachen.
Der Buchtitel kündigt eine Klage an, denn das ist eine Elegie: ein Klagegedicht, dass nach heutigem Verständnis zumeist traurige, beklagenswerte Themen beinhaltet. Der Titel verknüpft die Klage mit der Geschichte der Familie des Autors und – so im deutschen Titel – mit einer Gesellschaft in der Krise. Treffender ist indes der amerikanische Originaltitel, in dem von Kultur in der Krise die Rede ist, und es ist gewiss ein Unterschied, ob man eine (bestimmte) Kultur (von Teilen) einer Gesellschaft oder gleich die ganze Gesellschaft als solche in der Krise sieht. Es liegt dem Autor J. D. Vance aber fern, die amerikanische Gesellschaft in Frage zu stellen. Vielmehr erzählt er, warum eine bestimmte Prägung seiner Landsleute in den Appalachen ihnen beim Verwirklichen des amerikanischen Traums im Wege steht. Letztlich haben wir es bei der Hillbilly-Elegie nicht nur mit einer Familiengeschichte zu tun, die einen ungeschminkten Blick ins brutale Leben in der amerikanischen Provinz bietet, sondern mit einem Stück Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Und es ist die Geschichte von einem, der auszog, um nicht mehr wegzulaufen.
Neben den vielen Menschen aus Fleisch und Blut, die den Werdegang des jungen J. D. Vance auf dem Weg von der Armut in der Provinz zur Elite von der Yale-Universität beeinflussen, begleitet ihn und den Leser stets die Figur des amerikanischen Traums. Um den amerikanischen Traum ranken sich Mythen, und dem vielzitierten Bild vom Aufstieg des Tellerwäschers zum Millionär ist wohl jeder schon begegnet. Aber eigentlich geht es beim amerikanischen Traum nicht um einen märchenhaften Aufstieg, sondern um ein Arbeitsethos, das zur nationalen Identität der USA gehört und Symbol des amerikanischen Selbstverständnisses ist. Der amerikanische Traum hat zwar viele Facetten, aber letztlich geht es um die Möglichkeit des Menschen, seine individuellen Ziele durch eigene Anstrengung und Arbeit erreichen zu können.
Doch wie weit kommt man mit harter Arbeit? Der Autor erzählt, wie seine Großeltern in der Nachkriegszeit versuchten, mit Fleiß und Mobilität der Armut in den Appalachen Kentuckys zu entkommen und in der Mitte einer sich modernisierenden Industriegesellschaft in Ohio anzukommen. Aber es gelingt den Großeltern kaum, dem elenden Kreislauf aus Alkohol, Drogen, Gewalt („die Art, die einen ins Gefängnis bringt“), → Medikamentenabhängigkeit und Schulden zu entrinnen. J. D. Vance erzählt von der Resignation einer ganzen Bevölkerungsschicht, der er vorhält, dass sie sich in Teilen selbst aufgegeben hat. Die mit Erkenntnissen aus soziologischen Studien angereicherte autobiografische Schilderung lässt unwillkürlich eine Erklärung für den Wahlsieg von Donald Trump im Herbst 2016 aufscheinen – die Wahlentscheidung im → Rust Belt war bei nüchterner politischer Analyse vorhersehbar.*
„Du kannst den Jungen aus Kentucky rausholen, aber du kannst nicht Kentucky aus dem Jungen rausholen.“ Der Autor berichtet zahllose Beispiele aus seiner Kindheit und Jugend und seiner Großfamilie, die das Bild einer Bevölkerungsgruppe und einer Region entstehen lassen, die sich als abgehängt wahrnimmt, vergessen oder übergangen bei der Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, und hierauf mit Resignation reagiert. Die Betroffenen glauben nicht, dass es sich lohnen könnte, für ein besseres Leben zu arbeiten, denn der Erfolg der Anderen liegt an deren Intelligenz und Talent, womit die eigene Anstrengung sinnlos erscheint. Der Vater des Autors hat den Wert harter Arbeit immer anerkannt, glaubt aber nicht, das sie der Weg zur Yale-Universität ist, sondern man dort aufgenommen wird, wenn man sich als Linker oder Schwarzer ausgibt. Mit dieser Sichtweise hält man die gewöhnlichen Maßstäbe des Erfolgs nicht nur für unerreichbar, sondern für den Besitz von Menschen, die anders sind als man selbst.
Der Autor hatte das Glück, dass insbesondere seine Großmutter mütterlicherseits alles getan hatte, um ihn von dieser Haltung abzubringen; vor allem hatte sie ihm ein Stück sonst fehlender familiärer Stabilität gegeben. Das war die Grundlage seiner sozialen Mobilität, und der Autor singt Loblieder des sozialen Aufstiegs, schildert aber auch plastisch seine Schattenseiten. Denn sozialer Aufstieg ist keineswegs nur eine finanzielle oder wirtschaftliche Angelegenheit, sondern auch eine Veränderung des Lebensstils. Die Reichen und Mächtigen sind nicht nur reich und mächtig, sie haben auch andere Werte. Wechselt man von der Arbeiterschicht in die Welt der gut bezahlten Berufe mit akademischer Ausbildung, wird beinahe alles, was das alte Leben ausgemacht hat, entwertet: im besten Falle ist es nicht mehr schick, im schlechtesten Fall ungesund. Der soziale Aufstieg ist kein sauberer Schnitt, und die Welt, die der Autor hinter sich gelassen hat, holt ihn immer wieder ein.
All das lässt sich aushalten und lernen, und J. D. Vance, ein Republikaner, der sich in die üblichen Schubladen nicht einordnen lässt, beklagt die Rhetorik heutiger Konservativer, die ihren Wählern nicht Mut macht, sondern ihre Unmündigkeit schürt. Es sind aber die Erwartungen, die sie an ihr eigenes Leben gestellt haben, die die Erfolgreichen von den Gescheiterten unterscheidet. Das ist eine Frage der Haltung, nämlich der Selbstachtung, die man entweder vorgelebt bekommt oder eben nicht. Deshalb erzählt die Hillbilly-Elegie von einem, der auszog, um nicht mehr wegzulaufen. Der soziale Aufstieg geht dabei Hand in Hand mit dem privaten Glück: Die Verwandten des Autors, denen es gelungen ist, eine stabile Familie zu gründen, hatten jemanden geheiratet, der nicht aus der kleinen Welt der Appalachen stammte. Dieses Glück hat auch J. D. Vance mit seiner Frau Usha.
∗ Michael Moore im Juli 2016:
→ The Hill, 25.7.2026, Michael Moore: 5 reasons Trump will be president
→ The New Zealand Herald, 25.7.2016: Why Donald Trump will win: Michael Moore lists five reasons
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