Vom Scheitern der Sidis-Methode
Eine Buchbetrachtung zu:
Klaus Cäsar Zehrer, Das Genie
Diogenes, ISBN 978-3-257-06998-3
Vor gut einhundert Jahren, im Jahr 1910 wurde das vermutlich größte Genie aller Zeiten gefeiert: Im zarten Alter von 11 Jahren hatte William James Sidis vor dem Mathematischen Klub der Harvard University einen Vortrag über vierdimensionale Körper gehalten. Das hatte Folgen für den jungen Billy Sidis: fortan wurde er von den Medien – und das war damals nur die Presse – als Wunderkind mit einem geschätzten IQ von 250 bis 300 gefeiert und nachfolgend begleitet, um nicht zu sagen verfolgt. Daraus entwickelte sich für den Rest seines Lebens eine tiefe Abneigung des William Sidis gegen Journalisten, und wenn er damals nicht in den USA, sondern in Deutschland gelebt hätte und ihm die zeitgenössischen Schriften von Karl Kraus bekannt gewesen wären, hätte er wohl von → Journaille statt Journalisten gesprochen. Desaströs war nicht nur das Verhältnis von Billy Sidis zur Presse; als gescheitert schildert der Autor das ganze, eher kurze Leben des William Sidis, der 1944 im Alter von 46 Jahren gestorben ist – und damit noch die Lebensspanne seines Vaters Boris Sidis, der mit 56 Jahren auch für damalige Verhältnisse nicht alt geworden ist, noch unterboten hat.
Die Erzählung des grotesken Lebensweges von Billy Sidis setzt ein mit der Ankunft seines aus der Ukraine stammenden Vaters Boris Sidis in New York im Jahr 1886. Im 150 Seiten umfassenden ersten Teil des in drei Teile gegliederten Romans wird zunächst der Weg des Boris Sidis aus dem Immigranten-Prekariat zum anerkannten Wissenschaftler facettenreich illustriert, und schon hier werden charakterliche Eigenschaften deutlich, die der 1898 geborene Sohn noch ausgeprägter leben wird. Die Prägung seines Sohnes Billy geht wesentlich zurück auf die vom Vater entwickelte und nach ihm benannte → Sidis-Methode, deren Praktizierung am eigenen Sohn als Versuchskaninchen durch Boris Sidis im Zweiten Teil (ab Seite 151) anschaulich wird, bis hin zum Auftritt des bedauernswerten Wunderkindes in seiner Schulzeit. Sichtbar wird auch ein zwanzigstes Jahrhundert, das in einem Wissenschaftler eher einen Techniker als einen Philosophen sah.
William Sidis reagiert mit 16 Jahren mit dem Entschluss, ein perfektes Leben zu führen – und wird in der Konsequenz seiner Weltsicht nicht nur zum überspannten Einzelgänger, sondern – über die militärpolitische Bedeutung des Wortes hinaus – zum Totalverweigerer im weitesten Sinne. „Sein bizarrer Blick auf die Welt, seine spektakuläre Verkrampftheit, seine urkomische Humorlosigkeit, seine rührende Unbeholfenheit in alltagspraktischen Dingen, seine Ahnungslosigkeit von den gewöhnlichsten und seine Begeisterung für die abwegigsten Themen, all das konnte einen auf die Palme bringen, man konnte es aber auch, etwas Übung und guten Willen vorausgesetzt, bestaunen wie ein Koriositätenkabinett“ (Seite 325 f.).
Wie ein Kuriositätenkabinett erscheint die ganze Geschichte von Vater und Sohn, die der Autor auf rd. 650 Seiten entfaltet. Trotz des Umfangs liest sich das Buch Dank der flüssigen und humorvollen Darstellung sehr flott, und die Faszination des Stoffs wird kaum getrübt durch den Eindruck, dass manche Beschreibung von Sidis senior und Sidis junior wie eine Zuschreibung autistischer Züge wirkt, was aber als Ausmalung einer historischen Figur durch einen Romancier durchgeht und angesichts des Genies von Vater und Sohn, die beide Dutzende von Sprachen mühelos erlernten und beherrschten, irgendwie beruhigend wirkt. Nebenbei erfährt man einiges über die Zustände im russischen Zarenreich, über wissenschaftliche Grabenkämpfe, frühe Formen der Wellness-Industrie und Gründe für das frühe Sterben des Straßenbahnwesens in den USA.
▮