Oder: Wie muss ich sein, um einen Millionär zu angeln?
Eine Buchbetrachtung zu:
Thomas Stölzel, Zur Sprache gebracht. Aufzeichnungen, Notate und eine historische Phantasie
Königshausen & Neumann, ISBN 978-3-8260-6487-6
Was machen wir mit der Sprache – und was macht sie mit uns? Diesen Fragen geht der Autor Thomas Stölzel in sieben Kapiteln nach, die in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können. Das geht problemlos, weil es sich bei dem Buch weder um eine geschlossene Erzählung noch um ein wissenschaftliches Werk handelt, bei dem das Verständnis der hinteren Kapitel die Lektüre der vorderen voraussetzt. Vielmehr kann jedes Kapitel je für sich betrachtet werden und als Ausgangspunkt für Erkundungen unserer Welt, die eine Welt der Sprache ist, dienen.
Ich bin “normal” von vorne nach hinten durchgegangen – und schlage interessierten Lesern eine andere Reihenfolge vor: Beginnen mit dem letzten Kapitel (Jeux de Maximes, ab Seite 231) und anschließend mit dem ersten und den nachfolgenden Kapiteln weiter forschen. Es ergibt sich dann folgende Reihenfolge:
- Jeux de Maximes (ab Seite 231) setzt die Entstehung des ersten Skelett-Buchs in Szene (dazu sogleich);
- Ins Bild gebracht (ab Seite 9) behandelt Höhlenmalerei als eine der ersten Ausdrucksformen des Homo sapiens sapiens;
- Blitze und Tropfen (ab Seite 63) gibt ein Beispiel für ein wirkmächtiges Wortbild;
- Eine Frage der Gattung (ab Seite 69) zeigt Potentiale von Aphorismen auf;
- Federlesen (ab Seite 75) berichtet von kleinen und großen, anekdotischen und historischen, hellen und dunklen Spracherlebnissen;
- “Falsch” erscheint als “Richtig” (ab Seite 137) weist plastisch auf unsere kognitiven Grenzen hin;
- Das sprachmächtige Tier (ab Seite 173) eröffnet Blicke auf das, worum niemand auf Dauer herumkommt: Wie man etwas zur Sprache bringt.
Im Kapitel Jeux de Maximes erzählt der Autor von der Entstehung der ersten literarischen Sammlung von Aphorismen, veröffentlicht von François de La Rochefoucauld im Jahr 1664. Skizziert wird der Hintergrund, vor dem La Rochefoucauld seine eng mit den politischen Wirren seiner Zeit verknüpften Lebenserfahrungen sammelt und sie später zu Denktelegrammen verdichtet. Das Verdichten ist verbunden mit der dialogischen Kultur adeliger Salons jener Zeit, in denen exklusiv geladene Gäste verbal brillieren: Sprache und Wortwechsel stehen im Zentrum, Worte sind wichtiger als Taten, sie bilden selbst die Handlung. In szenischer Darstellung, die wie ein Drehbuch anmutet, wird aufgeführt, wie La Rochefoucauld die Potentiale seine skelettartigen Prosa kurz vor ihrer Publikation an einem ausgewählten Kreis von sprachmächtigen Zeitgenossen erprobt.
Die in jenem Kapitel im Zentrum stehenden Aphorismen lassen sich vielleicht als Königsklasse der Sprache und ihrer Möglichkeiten bezeichnen: Ein Aphorismus – so wird Marie von Ebner-Eschenbach zitiert – ist der letzte Ring einer langen Gedankenkette. So kann man das vom Ergebnis her beschreiben. Von der Entstehung her lässt es sich so darstellen: Der systematische Geist kristallisiert, der assoziierende setzt Trauben an. Der eine trennt, der andere verzweigt (Ernst Jünger).
Es ist ein weiter Weg bis zu diesem Reifegrad der Entfaltung von Potentialen der Sprache, und auf diese (Zeit-)Reise der Menschheit und jedes individuellen Menschen nimmt uns der Autor in den ersten sechs Kapiteln seines nicht sprachwissenschaftlichen, sondern fragmentarischen und die Skepsis und den Humor anregenden Buches mit. Hier meine Perlenschnur mit einigen Fragmenten:
•••• Es gibt keine Situation, keine Lebenslage ohne Worte. •••• Empfindungen, Gefühle, Gedanken sind unauflöslich mit ihrem sprachlichen Ausdruck verbunden. •••• Gibt es ein Denken jenseits der Sprache? •••• Das besondere Medium, das die Sprache darstellt: Sie erschließt uns die Welt; sie verstellt uns die Welt, wenn wir nicht achtsam sind. •••• Eine Sprache verstehen bedeutet, eine bestimmte Lebensform zu verstehen und sich in ihr bewegen können (dann kann man den Traum vom Millionär als gute Partie verkaufsfördernd enttäuschen) •••• Wer nicht nur dahinplappert und Wörter aneinander reiht, sondern wegen seiner Rolle im gesellschaftlichen Leben seine Worte wägt und sorgsam wählt, schärft im Laufe der Zeit den Blick für die Bedeutungszusammenhänge der Worte. •••• Eigenständig einer Sprachgemeinschaft angehören - und deren Wortgrenzen erweitern (und das in einer Zeit der Political Correctness!) •••• Ich atme in der Sprache. Ihr Wort und Rhythmus machen mein innerstes Dasein aus (Jakob Wassermann; eine besondere Herausforderung für Sprechberufe). ••••
Der fragmentarische Charakter dieses erlesenen Sprachbuches ist für die Leser ein unscheinbar wirkendes und doch üppiges Geschenk, denn ein dahinplätschernder Lesefluss kommt gar nicht erst auf; der ständig stolpernde Gang beim Lesen bietet stets Anlass, uns selbst beim alltäglichen Gebrauch unserer Sprache zuzuschauen. Das unterscheidet sich diametral vom omnipräsenten, hastigen Dampfplaudern per Mausklick, mit dem jeder sofort zum Kern einer Mitteilung will. Wer den Leser mit verschiedenen Seiten und Perspektiven einer Geschichte umstellt, wirkt umständlich. Man drängt auf Geschwindigkeit; für die verstümmelte Darbietung von Emotionen gibt es Emoijs, die anmuten wie digitale Höhlenmalerei. Thomas Stölzels Buch ist ein Steinbruch mit einer unerschöpflichen Auswahl an Denk-Malen, an denen die fantastische Reise des sprachmächtigen homo sapiens sapiens besichtigt werden kann.
▮