Eine Buchbesprechung zu:
Jochen Buchsteiner, Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie
Rowohlt, ISBN 978-3-498-00688-4
Kein geringerer als Mister Europa, → der ehemalige ARD-Korrespondent in Brüssel Rolf-Dieter Krause, sagte ein Jahr nach seinem Wechsel in den Ruhestand: „Der Zustand Europas hätte nicht so werden müssen, wie er ist.” Er sieht also ein Defizit der Verfassung (= Befindlichkeit, Konstitution, Stimmung, Zustand) der Europäischen Union (EU), und dies hat der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts und Bundespräsident Roman Herzog bereits drei Jahre zuvor auch getan, in seinem 2014 erschienen Buch → „Europa neu erfinden – Vom Überstaat zur Bürgerdemokratie„. Herzog schreibt dort, dass die EU in den Jahrzehnten ihres Bestehens mehrfach ihre Funktionen verändert habe, wodurch sich auch ihre Organisation und Willensbildung gewandelt habe. Heute, so Herzog, erwarteten die Unionsbürger von der EU vor allem zwei Leistungen: den Erhalt des mittlerweile erreichten Wohlstandes und ein kraftvolles Auftreten der EU in der sich neu organisierenden Welt.
In seinem hier vorliegenden Buch schildert Jochen Buchsteiner sehr klar und nachvollziehbar, warum die Briten mehrheitlich nicht mehr darauf vertrauen, dass die EU diesen gestellten Aufgaben gewachsen ist. Der Autor zieht aus seiner Untersuchung den Schluss, dass die Briten in der EU geblieben wären und die Schweizer und Norweger schon lange dabei wären, wenn die EU an Stelle einer „immer engeren Union“ auf intergouvernementale Zusammenarbeit gesetzt hätte. Es könnte, so Buchsteiner, den Anführern der Union zu denken geben, dass sich diese reifen und selbstbewussten Demokratien vom Brüsseler Modell abgeschreckt fühlten (Seite 124).
Buchsteiner entfaltet seine Darlegung in drei Kapiteln:
- Kapitel I (Der missverstandene Brexit, Seite 9 ff.) erläutert die den jeweiligen Beteiligten zugeschriebenen Motive ihrer Positionen und die Wahrnehmung der jeweils anderen Seite;
- Kapitel II (Wurzeln des Andersseins, Seite 53 ff.) schildert in einem historischen Blick auf Britannien, wie es um das Selbstverständnis der Briten bestellt ist, wie es sich von den Kontinentaleuropäern unterscheidet und warum die Briten als Erste ihre EU-Mitgliedschaft aufkündigen;
- Kapitel III (Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie, Seite 97 ff.), dessen Überschrift dem Buchtitel entspricht, behandelt die politischen Chancen bzw. Risiken des Brexit für alle Seiten – und damit auch die für Kontinentaleuropa entscheidende Frage, ob der bisherige Integrationskurs („immer engere Union“) beibehalten werden kann.
Obwohl die EU-kritische Position des Autors unverkennbar ist, zeichnet sein Buch die Gründe, die überhaupt erst zur Diskussion eines Austritts und sodann im Sommer 2016 zum Abstimmungssieg der Brexiteers über die Remainers geführt haben, sorgfältig und ausgewogen nach. Seine profunden Kenntnisse über den bisherigen Diskurs in Deutschland, Britannien, Europa und der Welt und die damit in Zusammenhang stehenden nationalen und globalen Entwicklungen tragen entscheidend zur Sichtung des Klärungsbedarfs bei. Dabei gelingt es Buchsteiner, seine sehr prägnanten Ausführungen nicht nur mit nachvollziehbaren Quellen zu flankieren, sondern auch mit anekdotischen Beispielen zu veranschaulichen.
Auf dieser Grundlage schälen sich gute Argumente für den notwendigen (= die Not wendenden) Diskurs über den weiteren Weg der EU und Korrekturen ihrer Arbeitsweise und Ziele heraus. Es wird deutlich, dass der Brexit exemplarisch den Klärungsbedarf der EU aufzeigt: Kann – über das ursprüngliche Ziel der Sicherung von Frieden und Wohlstand hinaus – an der Vision einer „besseren Welt“ und der Überwindung von Grenzen und Nationen festgehalten werden, oder muss diese Vision heute als gescheitert bezeichnet werden?
Buchsteiner schließt seine Darlegung mit dem – in manchen Augen wohl ketzerisch anmutenden – Gedanken, dass die Kontinentaleuropäer den Briten am Ende noch dankbar sein könnten; der Brexit könne als heilsamer Schock verstanden werden für die Klärung der Frage, wie die Europäer ihren Platz finden in einer Welt, die immer weniger europäisch wird. Wenn, so der Autor, die EU den richtigen Weg einschlüge, mussten die Briten ja vielleicht gehen, um eines Tages richtig zu Europa dazuzugehören.
Auch wer die Wertungen des Autors letztlich nicht teilt, wird in seinem Werk eine sehr klare Darstellung der mit dem Brexit aufgeworfenen strategischen Fragen und ihrer Hintergründe finden. Zudem ist der mit knapp 140 Seiten überschaubare Lesestoff sehr flüssig lesbar – die Lektüre ist daher uneingeschränkt zu empfehlen.
▮