Über den schmalen Grat zwischen Freundschaft und Hass
Eine Buchbetrachtung zu:
Ferdinando Aramburu, Patria
Rowohlt, ISBN 9783498001025
Es regnet häufig im → Baskenland; das bringt die Nachbarschaft zum kantabrischen Meer (Golf von Biskaya) mit sich. Es regnet auch auf dem Umschlagbild des Buches; es zeigt einen Mann unter einem roten Regenschirm, der – so scheint es – durch eine tropfennasse Autoscheibe beobachtet wird. Es regnet oft in „Patria“, wenn das Leben zweier Familien über gut zwei Jahrzehnte und ihre schicksalhaften Berührungspunkte erzählt wird. Protagonisten sind der Stahlarbeiter Joxian mit seiner Frau Miren und ihre Kinder Joxe Mari, Arantxa und Gorka und, zunächst im selben baskischen Dorf lebend, der Fuhrunternehmer Txato mit seiner Frau Britoni und ihre Kinder Xabier und Nerea. Alle Figuren werden im Laufe ihres Weges im Regen stehen gelassen, einige mehr, andere weniger.
Das liegt daran, dass die beiden Familien, die vor allem durch die beiden Mütter als beste Freundinnen und durch den Radrennsport der beiden Väter miteinander verbunden sind, sich unter dem Druck des Terrors der → ETA entfremden. Am Tiefpunkt der Entfremdung sehen wir zwei Männer, einst gute Freunde, nun entzweit, ein jeder in seinem Haus auf seinem Bett, beide komplett angezogen ruhend, der eine zur letzten Siesta seines Lebens, der andere schlaflos nach der Ermordung des einen. Das ist die Zäsur: Ein Baske im eigenen Dorf ermordet, letztlich nur, weil er wirtschaftlich erfolgreich war und sich weigerte, „Revolutionssteuern“ – wie die Schutzgelderpressung durch die ETA euphemistisch benannt wurde – zu bezahlen, und als erster von einer Liste mit neun möglichen Todeskandidaten ausgewählt wurde.
Den Weg zur politischen Spaltung des Dorfes und – nicht minder wichtig – den Weg zur vorsichtigen Wiederannäherung erzählt Ferdinando Aramburu in mehr als einhundert Kapiteln, die meisten nur wenige Seiten kurz, was dem Innehalten und Sackenlassen beim Lesen entgegenkommt. Die Schilderung des Weges zu Spaltung und Terror ist wichtig, um das Warum zu begreifen; die Schilderung der Wiederannäherung ist umso wichtiger, als es mehr Mut erfordert, um Verzeihung zu bitten, als eine Waffe abzufeuern.
Die szenisch anmutenden Kapitel erzählen jeweils aus der Perspektive eines der neun genannten Protagonisten, vielfach in Rückblicken, ohne chronologische Reihenfolge, so dass die vielen Schnitte zwischen den vielen Szenen die Vielschichtigkeit der unterschiedlichen Perspektiven der Figuren betonen; eine – womöglich monokausale – Lesart der Geschichte der Handelnden oder Getriebenen wird so vermieden. Und trotzdem wird Vieles deutlich, auch die Radikalisierung der Jungen, die sich immer mehr verstricken in die Organisation der ETA, gewissermaßen immer mehr hinein rutschen, bis zum ersten Mord, in der Organisation Exekution genannt. So werden Taten im Namen von Prinzipien begangen, die Andere sich ausgedacht haben, und die gehorsam und naiv befolgt werden.
Was macht Terror mit uns?
Mit Opfern und ihren Angehörigen?
Und mit Tätern und ihren Angehörigen?
Das beschreibt Ferdinando Aramburu in seinem Roman Patria, etwa am Beispiel der skurril anmutenden Trauer von Britoni oder der selbstschädigenden Verhärtung von Miren oder der Sexsucht von Nerea oder Gorkas Leidenschaft für Bücher und die baskische Sprache Euskara oder Joxe Mari’s Läuterung in jahrelanger Haft, und angesichts der Offenheit, mit der der Autor zeichnet, und der Öffnungsbereitschaft, die er den Lesern abverlangt, ist es wirklich sinnvoll, dass → Autor und Verlag ausdrücklich davon abgesehen haben, für die deutsche Ausgabe den spanischen Titel „Patria“ einfach ins deutsche „Vaterland“ zu übersetzen – der innere Dialog zwischen Buch und Leser würde womöglich verschattet mit Zuschreibungen, die hierzulande zu Stereotypen geworden sind.
Dabei ist die Erzählweise sehr direkt und lebt von den meist kurzen Sätzen, die manchmal herrlich unvollständig sind, zum Beispiel: „Es wurde gesagt, dass, gesprochen über.“ Auch so werden die Identitäten der Figuren erkennbar, ihre Charaktere, Eigenarten und Vorlieben, die letztlich alle Basken sind, verstrickt in ihre uralte Tradition mit einer mehr als 7.000 Jahre alten Sprache, die mit keiner anderen verwandt ist. Terror ist trotz der mehr als 800 Morde der ETA in sechs Jahrzehnten keine baskische Tradition; er wurde zuvor durch das → Franco-Regime und die Bomben der deutschen → Legion Condor auf → Guernica ins Baskenland gebracht. Krieg oder Frieden, Bürgerkrieg oder innerer Frieden – das ist eigentlich nur die Frage, wie wir miteinander umgehen.
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