Eine Buchbesprechung zu:
Dame Stephanie Shirley, Richard Askwith: Let IT Go – The Memoirs of Dame Stephanie Shirley
Andrews UK Limited, ISBN 978-1-78234-282-3
Der Titel „Let IT go“ ist ein Wortspiel: Im Zentrum steht die Informationstechnologie (IT), aber der rote Faden der in englischer Sprache verfügbaren Autobiografie von → Stephanie Shirley ist das Loslassen (let it go). Der Autobiografin blieb auch nichts anderes übrig. Loslassen lernen, loslassen können – das ist die Klammer der drei Themen, die die Vita der Autobiografin prägen:
- Die Trennung von der Heimat und das Ankommen in der Fremde;
- Ein Startup in den 1960er Jahren, als Computer und Informatik in unserer Gesellschaft noch nicht allgegenwärtig waren (aber bereits unumkehrbar auf dem Vormarsch);
- Ein besonderes Kind und der Umgang damit.
→ Vera Stephanie Buchthal war fünf Jahre alt, als sie und ihre neunjährige Schwester im Sommer 1939 von den Eltern mit einem → Kindertransport von Wien nach England ins Exil geschickt wurden. Die Entfremdung des Flüchtlingskindes von den eigenen Eltern war eine der harten Folgen, die Stephanie Shirley in ihrer Autobiografie beschreibt. Sie erzählt auch, wie sie im Laufe der Jahre in England angekommen ist, im Alter von 18 Jahren die britische Staatsbürgerschaft angenommen und ihren Namen in Stephanie Brook geändert hat.
Stephanie Shirley berichtet von ihren Erlebnissen in einer Männerwelt, beginnend mit ihrer Zulassung zum Mathematikunterricht als einziges Mädchen in einer Jungenschule, später gefolgt von einer Anstellung bei der Royal Mail (Post). Dort entwickelte sie Software in der Abteilung für Statistik, lernte die → gläserne Decke kennen – und machte sich 1962 mit ihrer eigenen Softwarefirma F. International selbständig. Die Schilderung der Entwicklung des Unternehmens vom → Startup (wie wir das heute nennen) zu einer gefragten Consulting-Gruppe ist ein Stück spannende Wirtschaftsgeschichte, auch um Genderpolitik, Homeoffice, Mitarbeiterbeteiligung, Digitalisierung und Irrtümern und Missgunst im harten wirtschaftlichen Wettbewerb.
Ein anderer – und erkennbar schmerzhafter – Erzählstrang ist die Geschichte des Sohns von Stephanie und Derek Shirley, bei dem Autismus diagnostiziert worden war. Der Umgang mit den daraus folgenden Belastungen für das Ehepaar steht ebenfalls im Zentrum der Darstellung, vor allem die erheblichen finanziellen und organisatorischen Anstrengungen zur Verbesserung der Lage des Sohns und ihre Auswirkungen auf den Alltag. Daraus entwickelt sich neben einschneidenden Krisen auch ein nachhaltiges Kümmern um wohltätige Einrichtigungen. Als Stephanie Shirley im Jahr 2007 durch den Verkauf ihrer Unternehmensanteile zur drittreichsten Frau Großbrittanniens wurde, wird der Einsatz eines Großteils ihres Vermögens für wohltätige Zwecke zum neuen und bestimmenden Lebenswerk der Autobiografin.
Mich wundert, dass das sehr lesenswerte und bereits 2012 erschienene Buch nicht auf Deutsch verfügbar ist. Vielleicht liegt es daran, dass die Geschichte der Unternehmerin und ihres Startups zwangsläufig auch Phasen des Scheiterns enthält – das Scheitern wird hierzulande meist als Schlusspunkt behandelt, nicht als Zwischenschritt. Und vielleicht liegt es auch daran, dass die Geschichte des Flüchtlingskindes von einer Integration im Gastland erzählt, die maßgeblich auf eigener Tatkraft beruht.
Update:
Seit 2020 ist das Buch unter dem missglückten Titel „Ein unmögliches Leben“ → auch in deutscher Sprache verfügbar.
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