Eine Distanzierung von
Nord bei Nordwest – Der doppelte Lothar
Regie: Hinnerk Schönemann
Redaktion: Donald Kraemer (NDR), Katja Kirchen (ARD Degeto)
Drehbuch & Reihenidee: Holger Karsten Schmidt
Kamera: Uwe Neumeister
Musik: Stefan Hansen
Produktion: Triple Pictures
Laufzeit: 89 Minuten
Donnerstag, 11. Januar 2024, 20:15 Uhr im Ersten
→ ARD Degeto
→ Mediathek
Von Sir Peter Ustinov stammt der Satz: „Wenn man schon ein Gefangener seines eigenen Geistes ist, kann man wenigstens dafür sorgen, dass die Zelle anständig möbliert ist.“ Und: „Bildung ist nicht auf die Schule begrenzt. Sie geht unerbittlich weiter bis ans Lebensende.“ Aneignung und Nutzung von Wissen sind schlichtweg eine Frage der Selbstachtung – sofern man den Blick dafür hat. Aber auch bei Neigung zum analytischen Denken ist es ab und an ganz nett, sich einfach nur mit Stimmungen zu begnügen.
Das geht unter anderem mit der zu Serie geratenen TV-Schmonzette Nord bei Nordwest. Die lebt vor allem vom Setting, geprägt von der Landschaft, die die beste Rolle in der Serie hat. Der Rest ist eine Mischung aus Kitsch, Zeitgeist und Religionsersatz – Nord bei Nordwest ist reinstes Schnuller-TV, eben aus der Abteilung Brot und Spiele, was hierzulande zur medialen Grundversorgung des Publikums durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gehört.
In der Navigation steht Nord bei Nordwest für eine klare Richtungsangabe: 337 ½ º, wenn die Himmelsrichtungen in 32er-Teilung mit Grad-Skala genordet werden. Bei der zweiundzwanzigsten Folge „Der doppelte Lothar“ war allerdings der Kompass kaputt. Der Werte-Kompass. Folglich wird ein Irrweg genommen. Die Story, die in der 22. Folge erzählt wird, fasst → Rainer Tittelbach auf seinem Blog so zusammen:
Als eine Dienstreise Richtung Dänemark für einen glücklich verheirateten Handelsvertreter aus Schwanitz tödlich in Travemünde endet und zeitgleich eine andere Ehefrau dort ihren geliebten Gatten vermisst, ist die Verwunderung groß. Denn beide heißen nicht nur Lothar, sie sehen beide auch gleich aus … „Der doppelte Lothar“ (ARD / triple pictures), das klingt nach den Filmtiteln, die der MDR seinem „Tatort“ aus Weimar gegeben hat. Diese 22. „Nord bei Nordwest“-Episode, bei der Hinnerk Schönemann zum zweiten Mal hoch engagiert und launig verspielt Regie geführt hat, beginnt denn auch ziemlich schräg, bevor das Doppelleben-Motiv zwangsläufig ein Zwischen-Spiel über Ehe, Monogamie und Selbstverwirklichung eröffnet. In der zweiten Hälfte wandelt sich das Hinterbliebenen-Drama mit angenehm ernsthafter Opfer-Betreuung in einen spannenden Agentenkrimi. Wird da auch viel Geheimdienst-Geschwurbel zu dialogreich präsentiert: Auf der Zielgeraden geht es dann gewohnt physisch zur Sache. Wagner macht auf Emma Peel, Jule auf Wilhelm Tell und Jacobs auf Action-Held …
Aus irgendeinem Grund kamen die Filmmacher nicht ohne die Wendung der Story zum Agentenkrimi aus. Das fällt bei Nord bei Nordwest zunächst nicht aus dem Rahmen, denn in jeder Folge kommt die große weite Welt in Form des Bösen nach → Schwanitz, dem Entenhausen an der Lübecker Bucht.
Doch plötzlich geht es im betulichen Schwanitz um NATO, Rüstung, Spionage und den russischen Auslandsgeheimdienst. Und dabei fällt das Filmchen doch aus dem Rahmen: Der doppelte Lothar ist nun Agent des Generals Maxim Romanow, angesetzt auf seine zweite oder doppelte oder Neben- oder Hauptfrau, die dann im Showdown den General Romanow fragen darf (1:18:00): „Haben Sie meinen Mann auf mich angesetzt?“ Eine Filmminute später, zum Schluss des Tribunals, tritt sie dann an Romanow heran und sagt (1:19:30): „Manchmal wird die Welt ein Stück besser, wenn einige Menschen nicht auf ihr sind.“ Abgerundet wird das Feindbild mit der den Film abschließenden Trauerfeier für den doppelten Lothar, bei der die Pastorin im schwarzen Talar aus → Psalm 23,5 zitiert (1:25:40): „Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde …“
Wie man sieht und hört, wird die Gelegenheit der Schmonzette für einen Griff ganz tief in die Kiste der Xenophobie, hier der → Russophobie, genutzt. So wird hierzulande selbst im unscheinbaren Schnuller-TV das alte, neue Feindbild aktiviert:
Der Feind sitzt im Osten, in Moskau.
Wir müssen wieder kriegstüchtig werden.
Im Westen nichts Neues. Ein Roderich will → den Krieg nach Russland tragen. Der Name setzt sich aus den germanischen Elementen hrod „Ruhm“, „Ehre“ und rik „mächtig“, „reich“ zusammen und bedeutet in etwa „mächtig durch Ruhm“ bzw. „reich an Ruhm“. Die transatlantischen Ignoranten sollten besser nachlesen, wie die → Campagne de Russie und das → Unternehmen Barbarossa ausgegangen sind.
Bevor ich es vergesse: Vom russophoben Inhalt des Films distanziere ich mich. Nicht, weil ich diese bornierte Menschenverachtung verbockt hätte, sondern weil ich sie leider ungefragt mitfinanzieren muss – und das könnte als heutzutage gerne bemühte „Kontaktschuld“ gelten.
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