Eine Buchempfehlung:
Thomas Stölzel, Gedankenlaufbahnen I + II – Texte aus vier Jahrzehnten
Königshausen & Neumann, ISBN: 978-3-8260-8787-5
Im Sommer dieses Jahres sind mir unerwartet zwei handfeste Bände der „Gedankenlaufbahnen“ von Thomas Stölzel zugegangen. Beim Anblick beider Bücher erinnerte ich mich an ein Gespräch mit dem Autor einige Jahre zuvor, in dem er die Idee zu dem Projekt ansprach. Spontan hatte ich zugeraten, denn der Markt ist an dürftigen Autobiographien mehr oder weniger bedeutender Menschen nicht arm – ein Gegengewicht durch gehaltvolle Gedanken tut gut. Die Betonung liegt hier auf Gegen und Gewicht.
Von Gewicht muss zunächst aus haptischer Sicht gesprochen werden. Der Autor versammelt in den beiden Bänden auf über 950 durchgehend nummerierten Seiten insgesamt 88 Werkstücke unterschiedlichsten Formats. Vorangestellt ist ein Vorwort, dazu sogleich. Am Ende jeden Bandes finden sich noch einige Anmerkungen zu einzelnen Werkstücken, die näheren Aufschluss zum Hintergrund, zur Veröffentlichung oder zur Verbindung mit anderen Arbeiten geben. Dargeboten wird das Sammelwerk in sehr ansprechender bibliophiler Ausstattung. Die Rede ist von gebundenen Büchern mit festem Einband. Ins Auge fallen die beiden Buchumschläge, gehalten in hellem Taubenblau, die jeweils die selbe Collage, dies aber spiegelbildlich, zeigen – und damit einen illustrierten Hinweis auf die Texte zwischen den Buchdeckeln geben. Der Titel auf den Umschlägen ist gehalten in Weinrot, der Farbe des Hemdes, das der Autor auf den beiden Fotos trägt, die sich links neben den Titelblättern finden. Diese Fotos, von → Klaus Gruber ins Bild gesetzt, zeigen den Autor in eben jenem weinroten Hemd, sitzend an einem Tisch mit gedunkelter, massiver Platte, deren Patina kaum zufällig gewählt ist und an → seine Betrachtungen zu alten Löffeln erinnern. In Gesellschaft des Autors findet sich eine kleine blau Eule, die als sein innerer Antagonist gelten könnte. Vor allem im Foto im Band II ergibt sich im Zusammenspiel mit der Eule, die dem Autor auf der linken Schulter und somit in Augenhöhe sitzt, der klare Eindruck (Image) von Weisheit und Schelmenhaftigkeit. Eine gewisse Schelmenhaftigkeit ist denn auch conditio sine qua non des Spiels mit Worten. Sie ist auch Ausdruck des Humors, ohne den Weisheit nicht sinnvoll vorstellbar ist. Und nochmal Weinrot: Auch die beiden feinen Lesebändchen zeigen diese Farbe. Summa summarum vermitteln beide Bände haptisch und optisch den Eindruck einer Festschrift, die der Autor erklärtermaßen nicht vorlegen will. Er tut es doch.
Und damit bin ich beim Gegen und beim Gewicht der Inhalte. In den beiden Bänden finden sich 88 Texte unterschiedlichsten Formats in chronologischer Reihenfolge. Einigen davon bin ich schon an anderer Stelle begegnet, wie man → hier sehen kann. Vorliegend handelt es sich ausdrücklich nicht um die gesammelten Werke des Thomas Stölzel, sondern – so der Autor im Vorwort („Bausteine für eine epistomologische Biographie: Texte aus vier Jahrzehnten“) – um Gelegenheitsschriften. Das klingt wie Beifang und ist allzu bescheiden. Die Auswahl soll nämlich, wie er erläutert, einen Blick auf die lebensgeschichtliche Entwicklung seines Denkens ermöglichen; man könne aus ihr „‘Bausteine‘ … entwickeln, die als Grundlage für ein Gesamtbild [seiner] geistigen Person fungieren könnten“. Das wiederum klingt etwas eitel, sollte die Leser aber nicht davon ablenken, dass jene Bausteine ein Füllhorn an Blickwinkeln auf unsere Sprache bieten. Diese Gelegenheit sollte man sich nicht entgehen lassen! Die Gedankenlaufbahnen versammeln eine beeindruckende Vielfalt von Themen (wie Aphoristik, Moralistik, Psychosomatik, Homöopathie, Philosophische Praxis, Psychotherapie, Coaching, Selbstdenken, Skepsis, Zufall, Collage, Humor, Mut, Körper und Leib) und Bezugnahmen auf Autoren, Regisseure und Denker (wie Wollschläger, Antonioni, Bergman, Stendhal, Lichtenberg, Schopenhauer, Nietzsche, Wittgenstein, Popper, Feyerabend, Valéry, Canetti, Ernst Jünger, Somerset Maugham, Dieter Wellershoff, Claude Simon und Wisława Szymborska). So kann man Thomas Stölzel als kundigen Führer in der Welt des Denkens „buchen“.
Kennt man einige Stücke und Bücher aus der Feder von Thomas Stölzel, lässt sich als eine Determinante seiner Arbeiten die Erkundung von Sprache und ihrer Anwendungsmöglichkeiten, von denen uns die wenigsten bewusst sind, ausmachen. Und der Autor weiß, wovon er schreibt, denn die Möglichkeiten und Grenzen von Sprache in unterschiedlichen Settings hat er in Beratung und Therapie genutzt. Ohne Sprache geht gar nichts, es sei denn, man gibt als Robinson Crusoe den einsamen Insulaner. Aber selbst dann hängt man seinen Gedanken nach oder sucht Probleme zu lösen und greift dabei auf die eigene Sprache zurück – sonst ist man sprachlos und folglich auch gedankenlos. Als „geistige Person“, die jeder von uns mehr oder weniger ist, sollte man sich an den Rat von Sir Peter Ustinov erinnern:
Wenn man schon ein Gefangener seines eigenen Geistes ist, kann man wenigstens dafür sorgen, dass die Zelle anständig möbliert ist.
Entsprechende anständige Möbel findet man reichlich in den vorliegenden Gedankenlaufbahnen. Auch wenn es Thomas Stölzel ausdrücklich nicht um eine „Festschrift in eigener Sache“ gegangen ist, hat er doch gewissermaßen eine Festschrift vorgelegt – als Sammlung von Texten, die den Lesern Bausteine liefern. Bausteine weniger zum Erstellen einer Denkbiographie des Autors, sondern vor allem für die eigene Erkundung von Blickwinkeln, Redeweisen und Sprachlosigkeiten als Leser – in welcher Lebenssituation auch immer. Damit haben wir denn auch das eingangs erwähnte Gegen und Gewicht. Einladend ist übrigens auch, dass man sich aus diesem Marmorsteinbruch der Gedanken nach Bedarf ein Stück herauspicken und für sich verarbeiten kann – es sei denn, man kann der vollständigen, chronologischen Erfassung des Terrains nicht widerstehen …
Mit den beiden Bänden beschenkt Thomas Stölzel zunächst sich selbst (durch gründliche Selbstbegegnung, die man nicht fürchten sollte) und sodann seine Leser (die geistige Leckerbissen verschiedenster Zubereitung und Portion erlangen). Das macht die Gedankenlaufbahnen zur einer Festschrift. Der Autor lädt die Leser ein zu einem kommunikativen Fest – es ist angerichet! Man darf dankbar sein, dass die Gedankenlaufbahnen rechtzeitig vor der dunklen Jahreszeit – und damit vor Weihnachten – erschienen sind.
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