Wie man Zeit gut lebt statt sie zu bekämpfen
Eine Buchbesprechung zu:
Simone Stölzel, Der Tod in Potenzen, Philosophischer Roman,
Verlag Karl Alber, ISBN (Buch) 978-3-495-48977-2, ISBN (E-Book) 978-3-495-81499-4
Fangen wir mit dem weniger Unangenehmen an: Bei „Potenzen“ denken wohl die meisten Leser an frühere Mathematik-Stunden in der Schule. Im Titel des philosophischen Romans von Simone Stölzel verweisen die Potenzen aber auf ein anderes Fach: Der etwas unscheinbar gestaltete Buchumschlag zeigt im Fokus eine Reihe halbgefüllter Erlenmeyerkolben, die wie die bekannteren Reagenzgläser zur Ausstattung von Laboratorien gehören. Es geht also nicht um Zahlen, sondern um die Eigenschaften von Stoffen und ihre Reaktionen. Die sind Gegenstand von Chemie und Pharmakologie – aber auch der Homöopathie, die mit ihrem Ähnlichkeitsprinzip ein anderes Heilungskonzept verfolgt als die Gegenmittel der Schulmedizin.
All dies weiß der Privatdetektiv Walter Hertz nur in groben Zügen, als er mit der Suche nach dem verschwundenen Homöopathen Dr. Simon Geiger beauftragt wird. Dessen Tod wird befürchtet, und der Fall wird einer der interessantesten Aufträge von Walter Hertz, der ihn mit ungewohnten Fragen konfrontiert – auch mit seiner Vergangenheit als Student. Hertz hatte sein Studium der Philosphie nicht vollendet, sondern gewissermaßen durch das Studium seiner Mitmenschen fortgesetzt. Beides – der Suchauftrag und das Philosophiestudium – lebt von der Neugier, für den Detektiv als Berufsgrundlage, für den skeptischen Zeitgenossen, der nichts auf sich beruhen lassen will, als ständiger Begleiter beim Untersuchen der Menschen und der Dinge. Hertz untersucht die Menschen wie seine Fälle, und seine gründliche Recherche führt ihn immer wieder zum Wesen der Zeit und zur Vergänglichkeit. Er muss einiges einstecken, begegnet einer alten und einer neuen Liebe, einem alt gewordenen, aber fragend gebliebenen Besitzer ganzer Bücherwände und einem fast vergessenen Freund. Und am Ende glaubt Walter Hertz zu wissen, wie Dr. Simon Geiger verschwunden ist.
Wo und wann sich all dies zuträgt, lässt die Erzählung weitgehend offen. Das Rätsel trägt sich zu in einer nicht identifizierbaren größeren Stadt in Deutschland, in der mit D-Mark gezahlt wird und Telefonzellen mit Telefonbüchern noch üblich zu sein scheinen. Smartphones und das Internet kommen nicht vor, und zum täglichen Handwerkszeug des Protagonisten gehören sein analoger Anrufbeantworter und – weit zukunftsträchtiger – sein Fahrrad. Immerhin gibt es schon Überwachungskameras, und ein einziges Mal spielt ein Computer-Chip eine kleine Rolle. Dieser fast zeitlose Rahmen passt vorzüglich zum Wesen der Zeit, dem heimlichen Helden dieses philosophischen Romans, der sich wie ein Krimi liest, aber keiner ist. Oder doch? Gut erzählte Krimis sind Geschichten, bei denen man an der Beobachtung von Menschen teilnehmen kann. „Der Tod in Potenzen“ ist spannend, unterhaltsam und wahrnehmungsschärfend – ein Lesespaß und Pageturner, der obendrein mit völliger Abstinenz von Schreibfehlern gefällt.
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