Anmerkung zu einem beklemmenden Stück Prosa
Beschluss (GASP) 2025/966 des Rates der EU vom 20. Mai 2025 zur Änderung des Beschlusses (GASP) 2024/2643 über restriktive Maßnahmen angesichts der destabilisierenden Aktivitäten Russlands
ABl. L, 2025/966, 20.5.2025,→ ELI
Beschluss (GASP) 2024/2643 des Rates vom 8. Oktober 2024 über restriktive Maßnahmen angesichts der destabilisierenden Aktivitäten Russlands
ABl. L, 2024/2643, 9.10.2024, → ELI
Die weite Welt der → Prosa umfasst weit mehr als Werke künstlerischer Literaten; sie umfasst auch die schnöde Masse der Gebrauchsprosa – darunter Sachtexte wie Bedienungsanleitungen, Gesetzestexte oder Reden – die sich von literatischer Prosa abgrenzen lässt, so wie Prosa das massenhafte Gegenstück zur reim- oder versgebundenen Lyrik ist. Zur Gattung Prosa gehört also auch der oben näher bezeichnete Beschluss des Rates der EU vom 20. Mai 2025.
Der nur wenige Tage alte Beschluss firmiert in den Medien als 17. Sanktionspaket gegen Russland, dass Putin unter Druck setzen soll. Die literarische Einordnung des EU-Beschlusses als Gebrauchsprosa nutze ich für eine juristische Anmerkung, obwohl ich kaum geneigt bin, nach über 40 Jahren Befassung mit geschriebenem Recht in diesem Blog Rechtsfragen zu behandeln. Diesmal tue ich es ausnahmsweise doch – es ist leider nötig.
Ich bin → Jurist und war Beamter im höheren nichttechnischen Verwaltungsdienst und Rechtsanwalt. Mein ganzes Berufsleben war ich im Feld des Staatsrechts und des Verwaltungsrechts tätig – und damit zwangsläufig auch mit Untiefen des erst 1992 entstandenen EU-Rechts befasst. Bei der Arbeit mit dem Recht der Europäischen Union hatte sich mir oft das Bild eines allzu ehrgeizigen Männleins aufgedrängt, dessen Kopf beim Laufen schneller ist als die Beine – und das folgerichtig auf die Nase fällt. Darum soll es hier nicht gehen; das ist → schon an anderer Stelle geschehen.

Vielmehr soll es hier um ein Novum gehen, dass ich mit ungläubigem Staunen zur Kenntnis nehme: Im jüngsten Sanktionsbeschluss des Rates der EU werden erstmals auch zwei deutsche Staatsbürger sanktioniert, nämlich Alina Lipp und Thomas Röper. Beide leben seit einigen Jahren in der Russischen Föderation und setzen sich via Social Media bzw. einem Blog („Anti-Spiegel“) mit dem Krieg auseinander, der in der Ukraine seit 2014 ausgetragen wird.
Zu den Wesensmerkmalen des deutschen Grundgesetzes gehört die wehrhafte Demokratie. Sie steht für die Entschlossenheit der verfassungsgebenden Versammlung, sich gegenüber den Feinden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdGO) nicht neutral zu verhalten, sondern sich zur Wehr zu setzen. Den Müttern und Vätern des Grundgesetzes war es wichtig, dass Kernelemente der Verfassung nicht ausgehebelt werden können durch Maßnahmen, die im Gewand der Legalitiät daherkommen, also den Eindruck erwecken, dass sie formal korrekt zustande gekommen sind, die aber inhaltlich nicht mit Kernelementen des Grundgesetzes vereinbar sind. Diese Kernlelemente des Grundgesetzes wurden vom Bundesverfassungsgericht in vier Entscheidgungen entwickelt und werden als freiheitlich-demokratische Grundordnung (fdGO) bezeichnet. Ein Element der fdGO ist unter anderem das Rechtsstaatsprinzip, das zu den fünf Staatszielen der Bundesrepublik Deutschland (Art. 20 GG) gehört. Das Rechtsstaatsprinzip erfährt übrigens besondere Wertschätzung durch die sog. Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG, die ihrerseits einer der Anknüpfungspunkte für die Konstruktion der wehrhaften Demokratie ist.
Der Rechtsstaat ist per definitionem das Gegenteil von Willkürherrschaft. Zu seinen Elementen gehören dementsprechend
- die Gewaltenteilung,
- der Bestimmtheitsgrundsatz,
- der Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht und nicht zuletzt
- die Bindung aller staatlichen Gewalt an die Grundrechte und an Recht und Gesetz.
Die schon aus der Aufklärung bekannte Gewaltteilung ist ein Konzept der Machtbegrenzung, umgesetzt im Grundgesetz durch Teilung der bekannten drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative (horizontale Gewaltenteilung) und die föderale Teilung von Ländern und dem von ihnen abgeleiteten Bund (vertikale Gewaltenteilung; ausdrücklich geschützt durch das Staatsziel Bundesstaat in Art. 20 Abs. 1 GG). Mit diesem Konzept der Machtbegrenzung ist zwingend verknüpft eine klare Aufteilung von Aufgaben und Kompetenzen zwischen den Gewalten. Nach diesem Konzept ist es ausgeschlossen, dass eine Stelle der Exekutive eine Maßnahme – hier eine Strafe („Sanktion“) – anordnet, die Staatsbürgern der Bundesrepublik Deutschland grundgesetzlich geschützte Rechtspositionen entzieht. Vorliegend aber hat der Rat der Europäischen Union, der nur der Exekutive zugeordnet werden kann, den genannten deutschen Staatsbürgern die Grundrechte auf Meinungsäußerungs- und -verbreitungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG), auf Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) und auf Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) direkt oder indirekt aberkannt.
Der Bestimmheitsgrundsatz verlangt, das Bürger erkennen können, welche Rechtsfolgen sich bei Vorliegen bestimmter (sic!) Voraussetzungen aus ihrem Verhalten ergeben. Die staatliche Reaktion auf Handlungen muss voraussehbar sein, andernfalls wäre der Bürger der Willkür des Staates ausgesetzt. Vorliegend aber knüpft der Rat der Europäischen Union ausdrücklich an die unbestimmten Begriffe „hybride Bedrohungen“ und „Kampagnen“ an, um erklärtermaßen „flexibel“ reagieren zu können. Der Rechtsstaat ist aber nicht auf Flexibilität ausgerichtet, sondern auf Regelkonformität auch für Form und Verfahrensweise seines Vorgehens.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht verlangt, das Aussagen der Betroffenen
bei der Urteilsfindung mit berücksichtigt werden müssen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist eine besondere Erscheinungsform grundgesetzlicher Rechtsstaatlichkeit. Im Kern also müssen Betroffene vor einer Entscheidung angehört werden. Vorliegend aber setzt der Rat der EU die betroffenen Personen von der bereits getroffenen Entscheidung in Kenntnis und stellt eine Überprüfung seiner bereits getroffenen Entscheidung erst nach einer etwaigen Stellungnahme der Betroffenen in Aussicht.
Die Bindung aller staatlichen Gewalt an die Grundrechte und an Recht und Gesetz (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG) ist selbsterklärend. Sie ist unerlässlich für die Verhinderung von Willkür und genießt den besonderen Schutz der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG und ist daher Bestandteil der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (fdGO). Vorliegend wird sie umgangen, da die gegen die genannten Betroffenen gerichteten Sanktionen auf Seiten des Absenders gewissermaßen an die EU ausgelagert werden, obwohl die BRD an der Sanktionierung erkennbar mitwirkt.
Zurück zum Konzept der wehrhaften Demokratie der Bundesrepublik Deutschland: Das Grundgesetz kennt im wesentlichen zwei Instrumente zur Verhinderung eines Aushebelns von Kernelementen der Verfassung: Das Verbot von politischen Parteien oder ihr Ausschluss von staatlicher Finanzierung nach Art. 21 GG (in diesem Kontext sind die oben erwähnten vier Entscheidungen des Bundesverfassungerichts ergangen) und die Verwirkung von Grundrechten nach Art. 18 GG. Die letztgenannte Verfassungsnorm ist noch nie erfolgreich angewendet worden. Ein Verfahren nach Art. 18 GG ist insbesondere nicht gegenüber den beiden oben genannten Staatsbürgern durchgeführt worden. Vielmehr hat vorliegend der Rat der Europäischen Union unter Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland und unter Missachtung der beschriebenen Vorgaben des Grundgesetzes in Grundrechte der genannten Staats- und EU-Bürger eingegriffen. Gleichzeitig erscheinen die Grundrechtseingriffe, an deren Zustandekommen die BRD zweifelsfrei mitgewirkt hat, im Gewand eines formell korrekten Vorgehens, wie insbesondere an der Veröffentlichung der fraglichen Regelungen im Amtsblatt der EU deutlich wird. Letztlich stellt sich das Vorgehen der Europäischen Union gegen Alina Lipp und Thomas Röper als Beispiel dafür dar, was mit dem Konzept der wehrhaften Demokratie verhindert werden soll: dass Kernelemente der Verfassung ausgehebelt werden durch Maßnahmen, die im Gewand der Legalitiät daherkommen, also den Eindruck erwecken, dass sie formal korrekt zustande gekommen sind, aber inhaltlich nicht mit Kernelementen des Grundgesetzes vereinbar sind. Damit dürfte wohl erstmals die EU als trojanisches Pferd für einen politischen Angriff auf Staatsbürger und zugleich auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung genutzt worden sein.
Ürigens ist heute, am 23. Mai, Verfassungstag in Deutschland, denn vor 76 Jahren ist das Grundgesetz verkündet worden. Ein Feiertag ist dies in Deutschland nicht, und auch sonst scheint sich die Wertschätzung für unseren geltenden Gesellschaftsvertrag in Grenzen zu halten.
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