In 25 Tagen hat Israel mehr Zivilisten in Gaza getötet als ukrainische Zivilisten seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 ums Leben gekommen sind. Mehr als 3.000 getötete Palästinenser waren Kinder, während nach Angaben der Vereinten Nationen 527 Kinder während der russischen Invasion getötet wurden.
Der Westen hat auf die russische Invasion in der Ukraine mit Sanktionen, Haftbefehlen und weiteren Maßnahmen reagiert, während er Israels Vorgehen in Gaza-Streifen und West-Jordan-Land kaum kritisiert. Es wird offensichtlich mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen, was die Frage nach den Werten des Westens aufwirft. Das tut auch Paolo Becchi, derzeit → ordentlicher Professor für Rechtsphilosophie an der Juristischen Fakultät der Universität Genua. Becchi hat in einem am 2. November 2023 in der → Berliner Zeitung erschienenen → Gastbeitrag die Frage nach den Werten des Westens so kurz und treffsicher aufgegriffen, dass ich seinen Text hier wörtlich wiedergebe:
Der Westen solidarisiert sich mit Israel: Aber für welche Werte kämpft er eigentlich?
Wenn der Westen in den Krieg geht, werden unsere Werte zitiert, die wir verteidigen wollen. Aber was ist von diesen Werten geblieben? Nicht viel. Ein Gastbeitrag.
Nach der uneingeschränkten Unterstützung der Ukraine musste sich der Westen auf die Seite Israels schlagen, dem Opfer der Massaker und Terroranschläge der Hamas. Die westlichen Medien haben bereits begonnen, von einem „Angriff gegen den Westen selbst“ zu sprechen, von einem Krieg, der alle westlichen Länder betrifft. Uns, so die Vorstellung, wurde von der Hamas der Krieg erklärt, einer Terror-Organisation, die nicht einmal mehr als „Feind“, sondern als Bande „menschlicher Tiere“ bezeichnet wird.
Der israelische Verteidigungsminister definierte die Mitglieder der Hamas mit deutlichen Worten: Es handle es sich um eine Gruppe wilder Wölfe, die ohne Skrupel getötet werden müssen, da ihr Leben, ein tierisches Leben, kein Recht mehr darauf hat, gelebt zu werden. Wenn man in seinem Feind keinen Menschen mehr erkennt, scheint jede Gräueltat gerechtfertigt zu sein.
Die Berichterstattung über Israel und deren Wandel
An diesem Punkt stellt sich jedoch die Frage: Für welchen Westen kämpfen wir überhaupt und welche „Werte“ vertritt dieser Westen? Wohl nicht diejenigen, die sich um die „Menschenrechte“ kümmern und um die Verhinderung von kriegerischen Gräueltaten. Das zeigt sich allein, wenn unsere „Feinde“ des Westens als Subjekte definiert werden, die man vernichten muss.
Seltsam, dass sich heute kaum jemand mehr daran erinnert, wie vor nur drei Monaten in vielen westlichen Zeitungen Artikel erschienen sind, in denen von Israel als einer illiberalen Demokratie gesprochen wurde, nachdem Netanjahu die Rechte des Obersten Gerichtshofs ausgeweitet hatte, um ohne Widerstände durchregieren zu können.
Unser Traum ist zum Alptraum geworden
Jenseits von Netanjahu und Israel gibt es im Westen genug Demokratien, die ebenso über ein Legitimationsproblem verfügen. Ich frage also: Was ist dieser Westen, den wir verteidigen wollen? Wir kämpfen sicher nicht für jenen Westen, der auf den „Werten“ der sogenannten „jüdisch-christlichen Wurzeln“ basierte, die in der heutigen Gesellschaft weitgehend unterminiert werden. Worüber reden wir also?
Die Wahrheit ist, dass wir es nicht wissen. Oder besser gesagt, wir wissen, dass wir für einen Westen kämpfen, der sich als „demokratisch“, als „beste aller möglichen Welten“, als Garant für die Achtung der Menschenrechte legitimiert, ohne dass dies in Wahrheit der Fall wäre. In Wahrheit ist der Traum der allumfassenden Demokratisierung der Welt, ja der Belehrung der Welt zu Ende gegangen oder vielmehr noch: eigentlich zum Alptraum geworden. Wir wollen es einfach nicht wahrhaben, dass wir in Richtung einer multipolaren Welt gehen. Der alleinige Legitimierungsanspruch der westlichen Werte ist ausgeträumt.
Welche Zukunft verspricht uns unser Kampf?
Der Westen erkennt aber diese Veränderung, diese Multipolarität nicht an. Er verharrt in seinen blinden Flecken und geht davon aus, dass die westlichen Werte die einzig richtigen sind. Man könnte provokant sagen: Der Westen fühlt sich immer noch als der bessere Teil der Welt. Diese Idee hat die Geschichte des Westens tief geprägt und sich Seite an Seite mit dem „katholischen“ Ideal des Universalismus entwickelt, mit dem Anspruch, eine Wahrheit zu vertreten, die grundsätzlich für alle gilt, um sich schließlich in einem euro-zentristischen Imperium zu verwirklichen.
Aber welche Art von Zukunft verspricht dieser Kampf um unsere Werte, um die Ausweitung unseres Westens, den wir auch heute noch verteidigen? Die Wahrheit ist: Unsere heutige Gesellschaft ist nichts mehr als das sterile Produkt eines weit verbreiteten Nihilismus, ein Spiegel der Entleerung jeglichen Wertes, Spiegel einer destruktiven Finanzwirtschaft, einer Technik mit dem alleinigen Zweck der Selbstoptimierung. Wofür kämpfen wir also?
Wer seine Gegner entmenschlicht („menschliche Tiere“), vertritt ein Menschenbild, dass der im deutschen Grundgesetz verankerten Menschenwürde widerspricht. Daran ändert die aktuell beschworene Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland („Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson“) nichts, ganz im Gegenteil: Das frühere → Verständnis von Staatsräson als staatliche „Vernunft“, die sich über Rechte Einzelner hinwegsetzt, ist Geschichte. Heute richtet sich die Legitimation staatlichen Handelns nach der Verfassung. → Artikel 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland lautet:
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
Dass die Sicherheit Israels heute als deutsche Staatsräson gilt, ist kein Freibrief für Missachtung von Menschenrechten und Völkerrecht in → Palästina. Sind die → „Werte des Westens“ unwiderruflich verschüttet unter Trümmern und Leichen?
Im Westen nichts Neues
Es ist eine Frage der Perspektive. Wenn ein chinesischer Kuli einen französischen Soldaten schlägt, ist das Ergebnis ein öffentlicher Aufschrei: „Barbarei!“. Aber wenn ein französischer Soldat einen Kuli schlägt, ist das ein notwendiger Schlag für die Zivilisation.
Update:
14.11.2024: → Human Rights Watch: Israel’s Crimes Against Humanity in Gaza — Mass Forced Displacement and Widespread Destruction
05.09.2024: Ausschnitt Pressekonferenz der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock und des jordanischen Außenministers Ayman Safadi in Amman, Jordanien:
20.05.2024: → CNN Exclusive: ICC Chief Prosecutor explains why he’s seeking arrest warrants for leaders of Hamas and Israel
Besondere Empfehlung: ab 17:07 im Video, insbesondere 19:00: Karim Khan teilt mit, dass „ein hochrangiger Anführer“ („a senior leader“) ihm gesagt habe, dass der IStGH „für Afrika und für Verbrecher wie Putin gebaut wurde“ („is built for Africa and for thugs like Putin“) und nicht für den Westen und seine Verbündeten.
20.05.2024: → Statement of ICC Prosecutor Karim A.A. Khan KC: Applications for arrest warrants in the situation in the State of Palestine
26.01.2024: International Court of Justice, Den Haag: → Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide in the Gaza Strip (South Africa v. Israel), Order of 26 January 2024
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