Es ist mit Kurzgeschichten wie mit Kurzfilmen: Über Jahrzehnte habe ich dazu kaum Zugang gefunden, wenig konnte ich, stets versorgt mit dickleibigen Romanen und wenigstens anderthalb Stunden, manchmal überlangen Spielfilmen, damit anfangen. Selbst Jack Londons Südseegeschichten, gelesen von über vierzig Jahren, haben mich damals nicht beeindruckt und unzufrieden gelassen.
Heute weiß ich die Kürze, in der die Würze liegt, auch bei Erzählungen zu schätzen: Kurzgeschichten regen mit wenig Lesestoff die Phantasie an und lassen viel Raum für eigene Betrachtungen, denn mit dem Ende der kurzen Erzählung endet auch der vorgegebene Pfad, dem man sonst als Leser weiter folgen würde.
Ein cineastisches Kleinod der Gattung Kurzgeschichte findet sich mit Thomas Stölzels Delatron: Ein Traumbild, erschienenen Ende 2019 in → Heft 276 der Zeitschrift die horen. Zu lesen ist dort die kurze, aber pralle Schilderung eines Traumes, im dem es zunächst um einen nach Franken emigrierten Hugenotten geht, der beruflich und als Mann Rundungen mag, beides verknüpft mit der für ihn zentralen Rolle von Frauen in seinem Leben. Seine Zuneigung zu und sein Verständnis für Frauen sucht künstlerischen Ausdruck als Buch, dessen Nicht-Entstehung in Rückblenden zu zahlreichen Episoden führt, in denen dem Träumenden allerlei bekannte kulturschaffende Männer und Frauen aus unterschiedlichsten Epochen und Regionen begegnen, in denen das wohlwollende Spannungsverhältnis zwischen den Geschlechtern zum Motiv oder zum Gegenstand eines Werkes wird. Das erotische Knistern als Triebfeder künstlerischen Ausdrucks und Schaffensdrangs verbindet die Episoden, wie schimmernde Perlen aneinander gereiht an einer Kette kaskadenartig in einander stürzender Szenen, deren wild anmutender Zusammenschnitt einen Kurzfilm entstehen lässt, wie man ihn für einen kurzen Moment erinnert, wenn man jäh aus dem Schlaf erwacht und gerade noch die Schlussszene eines Traumes erinnert. Doch schnell verblasst und entschwindet mit dem Erwachen das Traumbild, dem Zugriff für Notizen fast entzogen, und lässt den Erwachten zurück mit den verschwimmenden Grenzen von Realität und Fiktion.
Eine Traumdeutung ist müßig. Denn auf die Frage, ob Männer und Frauen einfach nur Freunde sein können oder nicht doch immer die erotische Komponente die – wodurch auch immer veranlasste – Beziehung prägt, wurde schon mit dem abendfüllenden Filmklassiker Harry and Sally keine abschließende Antwort gefunden. Man kann, Mann und Frau können ihr nicht entrinnen. Weder wach noch im Traum, weder als Leser noch als Autor.
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