Eine Buchbetrachtung zu:
Robert Seethaler, Das Feld
Hanser, ISBN 978-3-446-26038-2
Idiot ist ein Wort, dessen unbedachte oder bedachte Verwendung einem Ärger einbringen kann. Für den Plural Idioten gilt selbstredend das Gleiche. Wer es nicht glaubt, schleudere es seiner Chefin oder seinen Kollegen entgegen und erfahre dann die Reaktion.
Idioten kann aber auch als alleinstehendes Wort an die Qualität eines Aphorismus heranreichen.
Das hat Robert Seethaler in seinem kleinen Roman Das Feld geschafft. Dort sagt Sophie Breyer, ehemals Inhaberin eines Tabak- und Zeitungsladens, beim Blick aus ihrem Grab auf ihr verflossenes Leben nur dieses eine Wort: Idioten.
Wenn Sophie Breyer ihren Rückblick aufs eigene Leben, wenn sie ihr Resümee auf dieses eine Wort beschränkt, was mag das dann für ein Leben gewesen sein? Was ist ihr widerfahren, wem ist sie begegnet, wer hat ihr wie übel mitgespielt? Oder handelt es sich um eine radikale Form von Realismus?
Es gibt wohl kein Leben ohne Ärger. Und es gibt viele Wege, mit Ärger umzugehen, vielleicht so viele, wie es Lebende gibt. Ein probater Weg zum Entärgern ist das Spaziergehen. Alleine oder mit Wegbegleiter, im städtischen Kiez oder im Wald – oder auf einem Friedhof. Den meisten Friedhöfen eignet die wunderbare Wirkung, dass sie kurz nach Passieren der Eingangspforte die eigene Stimmung ändern, als ob das Mitgebrachte abgestreift und an der Garderobe abgegeben wurde. Vielleicht liegt es daran, dass das Betreten des Gottesackers die – nicht zwingend unangenehme – Ahnung auslöst, eines Tages selbst hier dauerhaft zu ruhen. Vielleicht liegt es daran, dass Friedhöfe andere Anblicke bieten als ihre Umgebung, in der Stadt wie auf dem Land. Vielleicht liegt es an den Farben der Grabstellen, deren Gedenksteine und Bepflanzung gedämpftes oder sattes, aber niemals leuchtendes Braun, Grau, Schwarz, Weiß oder Grün aufweisen, durchbrochen nur von goldenen oder weißen oder schwarzen Inschriften. Vielleicht liegt es an eben jenen Inschriften, deren Namen und Geburtstage und Sterbetage wie die drei Punkte wirken, mit denen sich in der Geometrie ein Raum fixieren lässt. Das genügt der eigenen Phantasie als Ausgangspunkt, um unwillkürlich ein – wenn auch nur vages – Bild von den Lebensumständen der zur letzten Ruhe bestatteten Person aufscheinen zu lassen, die auf diese Weise wieder kurz zum Leben erwacht. Und wenn man am Grab verweilt und alles jenseits der Grabstelle entrückt, könnte es sein, dass man die Stimme des Verstorbenen hört, der die Gunst des Augenblicks nutzt und von sich gibt, was ihm auf der Seele liegt.
So ähnlich geht es zu in Seethalers Totenbuch, das eingangs einen Friedhofsbesucher und seine Eindrücke zeigt, um dann neunundzwanzig Stimmen aus den Gräbern des Feldes, eines Friedhofs am Rande einer Kleinstadt, zu Gehör zu bringen, die ganz unterschiedliche Rückblicke und Ansichten der Verstorbenen zeigen, verschieden in Umfang und Sichtweise. Die kürzeste und prägnanteste und zugleich offenste ist die von Sophie Breyer: Idioten.
Andere haben mehr zu sagen.
Der Friedhofsbesucher malte sich aus, wie es wäre, wenn jede der Stimmen noch einmal Gelegenheit bekäme, gehört zu werden.
Gerd Ingerland erlebte sein Begräbnis nicht als Abschied, sondern als Erledigung.
Der Gemüsehändler Navid al-Bakri hat herausgefunden, das man vieles über Menschen lernen kann, wenn man ihnen dabei zusieht, wie sie ihr Obst und Gemüse aussuchen. Er fühlte sich selten einsam, hatte keinen großen Wünsche und war klug genug, sich seine Träume nicht zu erfüllen.
Herm Leydicke lässt wissen, dass es bei den Toten keine Zeit gibt. Herm sagt auch, dass es vermutlich keinen Gott gibt. Aber das sei nur eine Idee.
Lennie Martin schildert anschaulich seinen ausweglosen Weg in die Spielsucht – das Trauma dieser Erfahrung der Hilflosigkeit hat er mit ins Grab genommen.
K.P. Lindow hatte zum Schluss auf seine alten Hände geblickt und bemerkt, dass sich die Sehnsucht nach den ersten Malen ganz unmerklich in die Hoffnung auf die letzten verwandelt.
Heiner Joseph Landmann, der Bürgermeister, hatte Krebs, bekam Morphium und erkannte im Namensgeber Morpheus den griechischen Gott der Träume, Sohn des Hypnos, Gestaltwandler, Bote zwischen den Welten und Gott des friedlichen Sterbens. Er erinnert sich an die vielen Hände, die er gedrückt, und an die wenigen, die ihn gehalten haben.
Susann Tessler bestreitet, dass der Tod nur ein Wort ist. Henriette war siebenundsechzig Tage lang ihre Freundin, die beste, die sie in ihrem Leben hatte, gestorben sechsundzwanzig Tage vor ihr. Susann sagt, die einzige Möglichkeit, im Alter nicht lächerlich zu werden, sei die eigene Lächerlichkeit anzuerkennen.
Annelie Lorbeer hätte aus reiner Neugier gerne das Sterben mitbekommen.
Jede der Geschichten hat einen Bezug zu einer der anderen. Über ein paar Ecken kennt jeder Jeden, wie man es von einer Kleinstadt erwartet. Paulstadt ist aber nicht klein genug, um nicht von einem Freizeitzentrum mit Wettbüro umd Spielhalle beglückt zu werden – verblüffend, wie oft einem in der Literatur das Glücksspiel begegnet.
Ich stelle mir vor, dass Seethalers Buch eine Fundgrube für Trauerredner ist. Und für Trauernde.
Und ich stelle mir eine Übung vor:
Welche Geschichte oder gar Lebensgeschichte würde meine Stimme aus dem Grab erzählen?
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