Eine Zeitreise wider die Gläubigkeit
Eine Buchbetrachtung zu:
Sue Prideaux, Ich bin Dynamit – Das Leben des Friedrich Nietzsche
Klett-Cotta, ISBN 978-3-608-98201-5
Mehrmals habe ich Reisen nach → Weimar unternommen. Ein erstes Mal im Jahr 1988 mit dem Auto zu legendären Stätten der deutschen Sozialdemokratie in Thüringen, mit einer Übernachtung im Erfurter Hof, der sich für mich wegen des Erfurter Gipfeltreffens 1970 mit der Ostpolitik von Willy Brandt verbindet.
Ein zweites Mal im Jahr 2013 als Radreise von Berlin über den → Saale-Radweg nach Weimar, um dann dort eine Woche unweit des Goethe-Hauses zu logieren und Stätten der Weimarer Klassik zu besichtigen.
Weimar ist keine Großstadt, aber übermächtig beladen mit deutscher Geschichte – für mich bislang bestehend aus dem Dreiklang von Weimarer Klassik, Weimarer Republik und Konzentrationslager Buchenwald. Ein Dreiklang in Moll. Das ehemalige → KZ Buchenwald am Ettersberg habe ich bei meiner ersten Weimar-Reise 1988 besucht, und die Besichtigung dieses Ortes unfassbaren menschlichen Grauens geht mir noch mehr als drei Jahrzehnte später unter die Haut. Mein Entsetzen damals war ein innerlicher, stiller Schrei.
Bei beiden Reisen wusste ich nicht, dass man von Nietzsches Sterbehaus, gelegen unmittelbar südlich des Zentrums von Weimar und Heimstätte des → Nietzsche-Archivs, einen Blick über Weimar auf den südöstlichen Hang des Ettersberges und auf das ehemalige KZ Buchenwald hat. Ebenso wenig wusste ich, dass die Rezeption von Nietzsches Werk in Skandinavien die Grundlage für das berühmte Bild „Der Schrei“ von Edvard Munch gelegt hat.
Diese beiden Sichten vermittelt → Sue Prideaux in ihrer packenden Biografie über Friedrich Nietzsche. Prideaux hat familiäre Wurzeln in Norwegen, lebt vorwiegend dort und ist Kunsthistorikerin. Zu Ihren Werken gehören Biografien über Edvard Munch (Behind the Scream, 2005) und August Strindberg (Strindberg: A Life, 2012), und offensichtlich hat die Autorin über die Erschließung deren Schaffens als große skandinavische Künstler der Moderne den Weg zu Friedrich Nietzsche gefunden. Denn Nietzsche, der als schonungsloser Selbstdenker und Skeptiker, der alles in Frage stellte und jede Gläubigkeit, auch Wissenschaftsgläubigkeit, ablehnte, mit seinen Werken über viele Jahre nur in bescheidenem Umfang Anerkennung und Einnahmen erzielte, erfuhr breite Wertschätzung erst durch das skandinavische Publikum. Erstmals 1887 erhielt Nietzsche eine durchschlagende Reaktion auf die von ihm zahlreich versandten Freiexemplare der auf eigene Kosten hergestellten Drucke seiner Texte, nämlich von → Georg Brandes, dem damals führenden Literaturkritiker Nordeuropas aus Dänemark, der Nietzsche eine ebenso rasche wie enthusiastische Antwort auf die unverlangte Zusendung zukommen ließ.
Brandes prägte den Begriff der Protestliteratur (indignationslitteratur) für solche Bücher,
die anständige Ehegatten in den 1880er-Jahren vor ihren Frauen und Töchtern verborgen hielten – Bücher, gegen die Bischöfe von der Kanzel herab wetterten und die nicht selten zensiert oder verboten wurden. Brandes trat ein für ‚gefährliche‘ Freigeister wie Kiergegaard, Ibsen, Strindberg, Knut Hamsun, Balzac, Baudelaire, Zola, Dostojewskij und Tolstoi. Das politisch-klerikale Establishment sah in ihm einen Götzen der Perversion, titulierte ihn gar als ‚Anti-Christ‘. (S. 377)
Über Brandes erlangten Nietzsches Schriften große Aufmerksamkeit in Skandinavien, als sie in Deutschland noch ein Schattendasein fristeten, und von Skandinavien aus hielten sie Einzug bei der künstlerischen Avantgarde von Berlin und Paris, um Einfluss zu nehmen auf Malerei, Theater, Dichtkunst und Musik. Strindberg und Munch gehörten zu den avangardistischen Zirkeln in Berlin, und dort machte Strindberg Munch mit Nietzsches Schriften bekannt.
Diese hinterließen bei Munch eine so tiefe Wirkung, dass er im Anschluss den Schrei malte. Dieses Werk erfasste den Zeitgeist wie kaum ein anderes: Munch hatte die ultimative Ikone des existenziellen Schreckens auf die Leinwand gebracht, im Bedenken dessen, was auf den Tod Gottes folgt, und die daraus folgende Verantwortung des Menschen, selbständig Sinn und Bedeutung im Leben zu finden. (S. 454)
Dieser späte Erfolg von Nietzsches Schaffen ereignete sich in der Zeit, als seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, die mit Skepsis nichts anfangen konnte und Selbstzweifel nicht kannte, ihren Geltungsdrang auf Kosten des erkrankten Bruders auslebte und skrupellos im eigenen Sinne in die Publikation seines Werkes eingriff. Hier wurden die Weichen gestellt für eine Zweckentfremdung von nietzscheanischen Begriffen und Formulierungen, die von den Freunden des damals verbreiteten völkischen Denkens und später den Nationalsozialisten, die Elisabeth hofierten, gerne aufgegriffen wurden. Das ist eine gänzlich andere Sichtweise als die oft kolportierte Zuschreibung der Rolle Nietzsches als Wegbereiter eines Denkens, dass den Nazis als Legitimation gedient haben soll.
Und so war meine dritte Reise nach Weimar eine Lesereise – mit Sue Prideaux‘ packender Biografie über Nietzsche, die wie ein Zeitroman daherkommt, der ein plastisches Sittenbild des Bildungsbürgertums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeichnet, als nicht nur die gebildeten Schichten der deutschen Lande ihre Rollen suchten zwischen Aufklärung und Restauration, zwischen Kleinstaaterei und Deutschem Reich, zwischen Biedermeier und Moderne, als das Denken und Leben noch eingeschnürt war von Konventionen und rigider Sittlichkeit wie die Oberkörper der Frauen von Korsetts. Nietzsche, der mit seiner Neugier, seiner Skepsis und seiner Leidenschaft zum Selberdenken seiner Zeit weit voraus und aus selbiger herausgefallen war (→ Unzeitgemäße Betrachtungen), gehört heute zu den meistrezipierten Philosophen der Kulturgeschichte der Menschheit überhaupt.
Seinen Schaffensweg erzählt Sue Prideaux als untrennbar verbunden mit seinem Lebensweg und Leidensweg, geprägt auch von dem glücklosen Verhältnis Nietzsches zu „seinen“ Frauen. Von Mutter und Schwester ist er nie wirksam losgekommen, und eine heiratswillige Gefährtin für das Leben hat er nicht gefunden. Geprägt auch von einer zunehmenden philosophischen Reife, die zunächst am Disput mit seinen Sparrings-Partnern wie zu Beginn mit Richard Wagner wächst, dann einer zunehmenden Höhe und Distanz entspricht, im Sinne des Abstands und Überblicks einer Vogelperspektive, bis der Abstand so groß geworden scheint, dass die Gravitation nicht mehr reicht, um die Bodenhaftung im praktischen Leben zu sichern. Als sich die dunkle Nacht der Krankheit um Nietzsches feinen und scharfen Geist legte, wurde sein Werk zum Hoffnungsschimmer einer ganzen Generation, die im zu Ende gehenden 19. Jahrhundert auf der Suche war nach einer Lösung zwischen Skepsis und Friedenssehnsucht, missbraucht von einer zu kurz gekommenen Schwester, die sich wie zum Ausgleich für das Steckenbleiben in Konventionen des unerreichten und Bollwerke sprengenden Denkens des Bruders bemächtigt.
Ich werde wieder nach Weimar reisen, der Stadt der Dichter und Denker, die ohne Friedrich Nietzsche nicht vollständig wäre.
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