Vor gut vier Jahrzehnten war ich für einige Monate Abonnent der → taz (die tageszeitung). Das war kurz nach ihrer Gründung (1978), als die taz noch eine links-grüne Postille für Anhänger der Friedensbewegung und der Umweltbewegung war, denen die zwei Jahre später (1980) gegründete Partei Die Grünen entstammte. Damals waren Internet und Social Media noch unbekannt, Papier (für Druckerzeugnisse aller Art) und Äther (für analogen Rundfunk und Fernsehen) waren die Wahl der kommunikativen Waffen. Das Druckverfahren war Grundlage der damals bei der taz üblichen Kommentare von Setzern, die in redaktionellen Texten ihren unmaßgeblichen Senf dazu gaben. Von alledem ist wenig übrig geblieben: Von der alten Medientechnik (die ihre Vorteile hatte und hat), vor allem aber von der Friedensliebe der damaligen grünen Partei. Zu den Wählern der Grünen seinerzeit gehörten unter anderem Leute, die eine längst untergegangene → antimilitarismus information herausbrachten.
Heute erscheinen die Grünen als eine deutsche Sektion der Sekte der gläubigen Transatlantiker, beseelt von europäischer Überheblichkeit wie die vormals von ihnen bekämpften Honoratioren („Unter den Talaren steckt der Muff von tausend Jahren.“). Man kann das eindrucksvoll besichtigen an der Titelseite der taz vom 19.11.2024, mit der dieses Befindlichkeitsblatt der urbanen Besserwessis den Einsatz von US-amerikanischen ATACMS-Raketen und bald auch deutschen Taurus-Marschflugkörper gegen die Russische Föderation als „Last-Minute-Flüge nach Russland“ abfeuert abfeiert. Was beim Abfeuern Abfeiern übersehen wird: Die Nutzung dieser Waffen durch die Ukraine ist (aus mehr oder weniger technischen Gründen) ohne aktive Mitwirkung von NATO-Einheiten nicht möglich, was die betreffenden NATO-Mitgliedstaaten jedenfalls aus Sicht der Russischen Föderation (und die entscheidet das so) zu Angreifern gegen unstreitiges Territorium der Russischen Föderation macht. Seitdem ist der Ukraine-Krieg ein direkter Krieg der beteiligten NATO-Staaten mit Russland.
Die Antwort aus Moskau ist deutlich: Am 21.11.2024 haben die russischen Streitkräfte der Weltöffentlichkeit einen neuen Waffentypus im Einsatz vorgestellt, indem eine konventionell bestückte ballistische Hyperschall-Langstreckenrakete Oreshnik in der russischen Region Astrachan am Kaspischen Meer gestartet und nach wenigen Minuten in der etwa 900 km entfernten Waffenproduktionsstätte Yuzhmash im ukrainischen Dnepropetrowsk eingeschlagen ist. Gegen Oreshnik ist der „Garten“, wie der unvergessen undiplomatische Josep Borrell Europa und Nordamerika einst in Abgrenzung zu anderen Teilen der Welt („Dschungel“) bezeichnete, machtlos; gegen Oreshnik ist (derzeit) im Giftschrank der NATO kein Mittel vorhanden.
Ihrem Präsidenten zufolge sieht sich die Russische Föderation wegen des Angriffs auf ihr Territorium als berechtigt an, Waffen – und gemeint ist Oreshnik – gegen Militäreinrichtungen von Staaten einzusetzen, die den Einsatz ihrer Waffen gegen Russland gestatten. Dabei – so die Ankündigung – wird die Russische Föderation Zivilisten in der Ukraine und Bürgern von mit ihr verbündeten Staaten die Möglichkeit bieten, potenzielle Angriffszonen im Voraus zu verlassen; die Vorwarnzeit soll 30 Minuten betragen. Damit stehen die Hohepriester der Sekte der gläubigen Transatlantiker vor der Wahl, die uns alle angeht und über Frieden zwischen den Völkern und den Fortbestand des Völkerrechts der Nachkriegsordnung des Zweiten Weltkrieges entscheidet:
Werden sie sich für Vernunft und gegen ihre propagandistischen Parolen entscheiden? Werden sie begreifen, dass sie beim Krieg mit der Russischen Föderation die dortigen Fähigkeiten unterschätzt und die eigenen überschätzt haben?
Werden sie verstehen und akzeptieren, dass das amerikanische Jahrhundert mit der Rolle der USA als Hegemon und selbsternanntem Weltpolizist, der nach Belieben weltweit Regeln vorschreibt („rule based order“, was das Gegenteil von Völkerrecht ist) und obendrein über ihre Einhaltung richtet und sie vollstreckt, vorbei ist?
Werden sie fähig sein, konstruktiv mitzuwirken in einer Welt, die der in der UN-Charta vorgesehenen Gleichrangigkeit aller Nationen entspricht, ohne eine exklusive Sonderrolle zu beanspruchen?
Oder werden sie weiter der arroganten Idee anhängen, dass der Westen ein Garten und alles andere ein Dschungel sei, in den auch nach fünf Jahrhunderten Kolonialismus und Imperialismus durch den Westen „Zivilisation“ exportiert werden muss? Werden sie weiter von Entwicklungshilfe reden, anstatt auf die Ausbeutung der sogenannten Dritten Welt durch miese postkoloniale Verträge zu verzichten?
Die Antworten auf diese Fragen entscheiden darüber, ob die Eskalationsspirale des Ukrainekrieges beendet oder bis zur finalen, schlimmstenfalls nuklearen Klärung „auf dem Schlachtfeld“ (Josep Borrell) fortgeführt wird.
Man kann bei Wahlen oder anderen politisch wichtigen Entscheidungen nachgucken, welche Quoten Buchmacher auf den Ausgang einer Klärung ansetzen (bei den Wahlen zur US-Präsidentschaft Anfang November 2024 haben Buchmacher den Abgang der Demokraten mit ihren Wettquoten vorhergesehen). Alternativ kann man auch vergleichend andere ähnlich gelagerte politische Entscheidungen betrachten, etwa die Antwort auf die Frage, wie man es mit dem → Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) halten will. Der wurde nach dem Ende des Kalten Krieges errichtet, im Kontext der Annahme vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) und der Vollkommenheit liberaler westlicher Demokratien, mit Inbrunst unterstützt insbesondere von der Europäischen Union. Danach wurden zahlreiche Verfahren zunächst ausschließlich gegen Personen aus Afrika geführt. Gefeiert wurde der IStGH im Westen nach dem Erlass eines Haftbefehls gegen Wladimir Putin (Präsident der Russischen Föderation) und Marija Lwowa-Belowa (Präsidialkommissarin für Kinderrechte der Russischen Föderation) am 17.3.2023 wegen Vertreibung der Bevölkerung (Kinder) und der Überführung der Bevölkerung (Kinder) nach Russland. Beim Haftbefehl des IStGH gegen Benjamin Netanjahu (Ministerpräsident Israels) und Yoav Galant (ehem. Verteidigungsminister Israels) vom 21.11.2023 wegen absichtlichen und wissentlichen Vorenthaltens überlebenswichtiger Güter der Zivilbevölkerung und wegen ausgedehnter oder systematischer Angriffe gegen die Zivilbevölkerung wird aus dem Westen mit Kritik und Relativierung reagiert.
Das ist mehr als nur Doppelmoral, es ist das Spiel der „rule based order“, die im Völkerrecht keine Grundlage hat: Ich spiele das Spiel nur mit, solange mir die Regeln in den Kram passen. Gefallen mir die Regeln nicht, fege ich das Spielbrett vom Tisch.
Wenn es wieder so kommen sollte, könnte sich eine alte Redensart bestätigen:
Wer nicht hören will, muss fühlen.
Spätestens dann ist Schluss mit Parolen statt Realitäten.
▮