Karls Kriegsbrief, ein Bildband und Diplomatie in Not
Als ich geboren wurde, war der Zweite Weltkrieg fünfzehn Jahre vorbei. In meiner Kindheit gab es auf den Straßen Berlins immer wieder Kriegsversehrte zu sehen, am auffälligsten erschienen mir die an ihren Gliedmaßen Amputierten.
In meiner Familie bin ich meines Wissens der erste Jurist, der Jura (um von Rechtswissenschaft nicht zu reden) nicht nur studiert hat, sondern damit auch durchs Leben geht. Zuvor, vor dem Ersten und vor dem Zweiten Weltkrieg, hatten zwei Angehörige meiner Familie mit dem Jurastudium begonnen, es aber wegen Teilnahme am Krieg nicht fortgeführt. Aus der wohl so gedachten Unterbrechung des Studiums wurde ein unwiderruflicher Abbruch. Mein Großonkel Karl Gorzel (1895 – 1918) hat die Teilnahme am Ersten Weltkrieg nicht überlebt. Mein Onkel Hans Gorzel (Jahrg. 1920) war von den im Zweiten Weltkrieg erlittenen Verwundungen für den Rest seines Lebens gezeichnet, leiblich und seelisch.
Karl Gorzel – Kriegsbrief (Erster Weltkrieg)
Von meinem Großonkel Karl kenne ich keine Fotos, nur eine Ikone, die seine drei Jahre jüngere Schwester Amalie in meiner Erinnerung hinterlassen hat – sie besteht aus einer begeisterten Beschreibung des Abiturienten Karl auf einem Schimmel bei einer Parade seines gymnasialen Abschlussjahrgangs.
Cover „Kriegsbriefe gefallener Studenten“
Karls Schwester, meine Großtante Amalie (Jahrg. 1898), war Lehrerin. Mein Bild von ihr ist geprägt von braunen Agitationsversuchen – in den 1970er Jahren betonte sie meine guten Erbanlagen (was für sich betrachtet als unverfänglich gelten könnte), diente mir mehrfach Ausgaben der faschistischen → National-Zeitung an, ferner eine Broschüre „Verbrechen an Deutschen“, und leistete sich die als Selbstentnazifizierung anmutende Behauptung, „bei den Nazis auf der schwarzen Liste“ gestanden zu haben, weil sie sich in der Lehrerkonferenz das Rauchen verbeten habe. 1945 war jeder fünfte erwachsene Deutsche eines von → 8,5 Millionen NSDAP-Mitgliedern – in nahezu jeder Familie dürften Nazis gewesen sein.
Aus dem Nachlass meiner Großtante Amalie ist mir ein Buch zugegangen, in dem ein Brief meines Großonkels Karl abgedruckt ist, sein Kriegsbrief vom 1. Oktober 1916. Bei dem Buch handelt es sich um die Kriegsbriefe gefallener Studenten, herausgegeben von Prof. Dr. Philipp Witkop mit einem Vorwort zur „Volksausgabe“ von 1933, 186. bis 190. Tausend, alles in Fraktur. Es ist seit 2016 im Netz verfügbar unter dem Titel → Auf den Tag genau vor 100 Jahren. Kriegsbriefe gefallener Studenten. Dort hat Leander Salden die von Witkop herausgegebenen Kriegsbriefe nebst Vorwort des Herausgebers vollständig und lesefreundlich bereitgestellt, versehen mit einem sehr umfangreichen und sehr lesenswerten eigenen → Vorwort. Die Webseite steht unter der Motto:
"Der Kaiser rief – und Alle, Alle kamen!" (um!)
Leander Salden schreibt:
Nach 100 Jahren sollte man sich auch eingestehen dürfen, dass die Tragödie des Ersten Weltkriegs nicht darin lag, dass er „ausbrach“, sondern dass er nur so strotzte vor Gelegenheiten, ihn vorzeitig zu beenden, was jedoch ausblieb, weil man nicht länger nach dem Prinzip von Carl von Clausewitz (1780 – 1831) handelte, wonach der Krieg nur eine Fortsetzung der Diplomatie mit besonderen Mitteln ist, DIE GEÄNDERT WERDEN MUSS, SOBALD SIE IHREN SINN VERLOREN HAT.
In Gedenken an die noch sinnloseren Opfer nach dem 12. September 1914 … lasse ich diesen Blog mit jenen Feldpostbriefen beginnen, die nach diesem Datum … geschrieben worden sind. Als sich die erste und beste Gelegenheit bot für einen Kriegsabbruch. Als Millionen Studenten wieder zur Uni hätten gehen können und Abermillionen von Menschen wieder zur ihren Höfen, zu ihrer Ernte, ihrer Arbeit, zu ihren Familien, Freunden, überall hin … nur nicht in diese „Knochenmühle“.
Zurück zum Buch mit seinem vergilbten und brüchig gewordenen Papier. Im Einband vorne finden sich zwei handschriftliche Widmungen, beide in Sütterlin:
Nach ewigen, ehernen, großen Gesetzen müssen wir alle unseres Daseins Kreise vollenden.
Grethe
Zum Kriegsweihnachten 1942 sei dies Buch dir, meine liebe Mally, eine tiefe Freude!
Deine Grethe
Beide Widmungen stammen von einer unbekannten Grethe. Die erste spiegelt das völkische Motto → „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ wider, die zweite wünscht zu Weihnachten „tiefe Freude“ nicht etwa mit der Weihnachtsgeschichte des Neuen Testaments, sondern mit der Lektüre von Kriegsbriefen gefallener Soldaten des vorangegangen sinnlosen Weltkrieges. Lebensbejahender Humanismus ist beides nicht.
Ferner findet sich im Buch an der aufgeklappten Seite von Karls Kriegsbrief ein 1970 entstandenes, nach gut fünfzig Jahren etwas verblasstes Foto seines Grabes auf dem → Soldatenfriedhof bei Neuville-St. Vaast (Arras). Mehr als fünf Jahrzehnte nach seinem sinnlosen Tod konnte Amalie das Einzelgrab 20111 ihres nur zweiundzwanzig Jahre alt gewordenen Bruders besuchen; mehr als dies, den veröffentlichten Kriegsbrief und persönliche Erinnerungen hatte sie wohl nicht von ihm.
Nun zu → Karls Kriegsbrief: Er beginnt mit dem Hinweis auf die wie ein schwerer Traum hinter ihm liegende „böse Thiepval-Affäre“. Mit Affäre ist kein Skandal gemeint, sondern ein Gefecht. Karl schildert dann Eindrücke von der Schlacht an der Somme und meint mit der bösen Thiepval-Affäre das → Gemetzel vor Thiepval, bei dem die britische Armee horrende Verluste erlitt. Karl und seine Kameraden haben Hindenburg gesehen und ihm zugejubelt, sein Anblick fuhr ihnen „wie Feuer durch die Glieder und erfüllte uns mit starkem Mut. Wir sollten ihn auch nötig haben.“ In der nachfolgenden Schilderung des Stellungskrieges werden die Hölle des Artilleriebeschusses und das nervenaufreibende Warten auf den Angriff der gegnerischen Infanterie beschrieben, der bis zum „Bajonettkampf Mann gegen Mann“ reicht. Der im Publikum verbreitete Hurra-Patriotismus aus den ersten Kriegstagen gerinnt dem Soldaten an der Front zum einfachen Überlebenswillen: „Das Feuer nimmt wieder zu, es schmerzt der Kopf, es brennen die Lippen. Nun liegt alles in Gottes Hand. Nur der eine Gedanke ist in jedem Hirn: lebend bekommen sie uns nicht!“ Der Brief endet ernüchternd: „Ein neuer Tag bricht an, schrecklicher noch als der alte. Das ist die Schlacht an der Somme, das blutige Ringen um Deutschlands Sieg – diese acht Tage bilden das Höchstmaß dessen, was der Mensch ertragen kann; es war die Hölle.“
Hans Gorzel – Bilder im Kopf (Zweiter Weltkrieg)
Mein Onkel Hans hatte 1939 mit dem Jurastudium begonnen, war aber gleich mit Beginn des Zweiten Weltkrieges in die Wehrmacht eingetreten und ab 1941 an der Ostfront. Er hat den Krieg in Osteuropa, der ein deutscher Angriffskrieg gegen die damalige Sowjetunion und ein → Vernichtungskrieg gegen Juden und Slawen war, nicht unbeschadet überlebt. In meiner Jugendzeit in den 1970er Jahren war er bemüht, uns Nachwachsende von den Folgen der psychischen und physischen Kriegsversehrtheit zu verschonen.
In jener Zeit schenkte er mir einen dicken Bildband, der auch umfangreiche Texte zum militärischen Verlauf des Zweiten Weltkriegs nebst kartografischen Darstellungen der Frontbewegungen enthielt: → Der 2. Weltkrieg: Bilder, Daten, Dokumente, erschienen 1968. Ich besitze das dicke, großformatige und schwere Buch nicht mehr, erinnere aber Folgendes:
Onkel Hans hatte das Buch seinerseits als Geschenk erhalten, mochte es aber nicht behalten. Er hatte das Elend des Krieges an der Front sechs Jahre lang selbst (üb)erlebt und und auch 30 Jahre nach dem Krieg keinen Bedarf an dem Bildband – er hatte genug Bilder im Kopf. Für die Weitergabe an mich hatte er im Einband eine Widmung notiert. Sie lautete sinngemäß, dass jeder Krieg Tod und unendlichen Kummer über zahllose Familien aller beteiligten Völker bringt und mir dies eine Mahnung sein möge. Ich habe den Bildband in jenen Jahren immer wieder stundenlang besichtigt, um die Dimensionen der Gewalt im Holocaust gegen Juden und im deutschen Vernichtungskrieg gegen Slawen zu erfassen.
Schlachtfeld Ukraine – Diplomatie oder Dritter Weltkrieg?
Ich wüsste gerne, was Onkel Hans davon hält, dass im Jahr 2023 wieder deutsche Panzer im Osten Europas gegen Russen zum Einsatz kommen. Fragen kann ich ihn nicht mehr. Fragen kann man nur die Lebenden.
Ukraine bedeutet etymologisch „am Rand“ oder „Grenzland“ – was seine Erklärung darin findet, dass sich auf ukrainischem Boden die verschiedenen europäischen Kulturkreise im Laufe der Geschichte durch weitgehend fehlende natürliche Grenzen überschnitten haben. Die Ukraine hat in ihrer Geschichte, ihrer Kultur und in ihrem Charakter als Vielvölkerstaat → viele Elemente aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa in sich aufgenommen. Das birgt Potentiale, etwa als Brücke zwischen dem mittleren und dem östlichen Europa. Es birgt aber auch Risiken durch Instrumentalisierung von Unterschieden im Vielvölkerstaat, leider realisiert durch → verblendete Transatlantiker, deren Bedürfnis nach Ausschaltung systemischer Rivalen zum → Griff in die russophobe Mottenkiste geführt hat. Das ist nicht neu, sondern drückt sich schon im Leitsatz des ersten Generalsekretärs der NATO, Lord Ismay, aus, der auf die Frage nach der Funktion der NATO gesagt haben soll: → „To keep the Americans in, the Russians out and the Germans down“.
Als Jurist, der die Grenzen des Rechts und des Völkerrechts kennt, weiß ich: Der → Standpunkt, dass der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine völkerrechtswidrig ist, hat mangels Durchsetzbarkeit nur Bedeutung für das eigene Weltbild im eigenen Teil der Welt. Die nahe Zukunft wird zeigen, ob der Westen den Weg findet zur Diplomatie anstelle des aussichtslosen Versuchs, das Schicksal der Ukraine → „auf dem Schlachtfeld“ zu entscheiden, bis hin zum atomaren Schlagabtausch des dann Dritten Weltkriegs.
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Nachtrag (6. Juli 2023):
Der oben (bei „verblendete Transatlantiker“) verlinkte englische Artikel von John J. Mearsheimer ist am 3. und 4. Juli auf Deutsch in zwei Teilen im Cicero veröffentlich worden:
→ John Mearsheimer: Die Dunkelheit vor uns, Teil 1
→ John Mearsheimer: Die Dunkelheit vor uns, Teil 2
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